Zwei frühe Genfer Uhren
- 21. Mai 2014
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Dass der Zustrom protestantischer Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, der Hugenotten, dem Wirtschaftsleben der Schweiz im 16. und 17. Jahrhundert ausserordentlich wichtige Impulse gab, gehört zum allgemeinen Wissen. Wenn uns konkreter interessiert, wie dieser Prozess vor sich ging und was er für die einzelnen Menschen bedeutete, können wir heute noch in den Museen Gegenstände, vor allem Uhren, betrachten, die damals angefertigt wurden.
Das Uhrenmuseum Beyer verfügt zum Beispiel über Uhren mit Signaturen von Jacques Sermand, Jean Arlaud, Jacob Huet, Josué Robert und über Uhrengehäuse mit feinsten Emailmalereien der Brüder Huaud. Der erste französische Uhrmacher, Thomas Bayard aus Lothringen, findet sich 1554 im Bürgerbuch der Stadt Genf, in der 1589 etwa 13 000 Menschen lebten, unter ihnen sehr viele Flüchtlinge aus Glaubensgründen, Refugiés. Uhren aus dem 16. Jahrhundert, die nachweislich in Genf hergestellt wurden, haben sich nicht erhalten. Die Erwerbszweige in der Stadt Genf beginnen, sich in dieser Zeit in Zünften zu organisieren, zuerst 1566 die Goldschmiede, dann 1601 die Uhrmacher. Möglichweise hatte die Organisation in Zünften zur Folge, dass die Uhren signiert werden (mussten), was es uns heute einfacher macht, frühe Genfer Uhren zu identifizieren.
J. Sermand Geneve
Als älteste erhaltene Genfer Uhr darf wohl die Halsuhr des Uhrmachers Duboule im Internationalen Uhrenmuseum in La Chaux-de-Fonds gelten, die auf den Beginn des 17. Jahrhunderts datiert ist. Ursprünglich aus Lyon stammt die Familie Sermand, die von 1620 an in Genf sehr kostbare Uhren mit Elementen aus Bergkristall herstellte. So befand sich in der Sammlung des Genfer Musée de l’horlogerie et d’émaillerie eine Uhr von Sermand in Form eines lateinischen Kreuzes, um etwa 1650 datiert. Weitere vier Uhren, von 1630 bis 1645 datiert, sind in den Sammlungen des British Museum aufbewahrt, darunter eine besonders schöne in Form eines Sterns. Die Form einer Tulpe haben Uhren in den Sammlungen des Louvre in Paris und des Metropolitan Museum of Art in New York. Die mit «J. Sermand Geneve» signierte Uhr im Uhrenmuseum Beyer zeichnet sich durch höchst bemerkenswerte Komplikationen aus: Das Zifferblatt unten zeigt die Uhrzeit an, das kleine Zifferblatt rechts die Wochentage mit den lateinischen Bezeichnungen für die Planeten, die den Wochentag regieren, das Zifferblatt links Mondphase und Mondalter, oben Tag des Monats. Es ist eine äusserst frühe, kleine Uhr mit einer Mondphase. Ob diese Uhr nun von Jacques Sermand d. Ä. (1595 bis 1651) oder von seinem gleichnamigen Neffen d. J. (1635 bis 1666) geschaffen wurde, ist schwer zu entscheiden. Zu den Mitarbeitern in der Werkstatt der Sermands gehörte übrigens auch Jean Rousseau (1606 bis 1684), der Urgrossvater des berühmten Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778). Der Vater des Philosophen, Isaac Rousseau (1672 bis 1741), war bekanntlich ebenfalls Uhrmacher und arbeitete um 1730 einige Jahre im Topkapi-Palast des Sultans in Konstantinopel.
Schon einige Generationen vor Isaac Rousseau haben Genfer Uhrmacher den Weg in die Türkei gesucht: Aus der jüngeren Generation der Sermand macht sich Jacques 1660 mit seinen Werkzeugen und allen Kleidern auf den Weg nach Konstantinopel. Er plant einen längeren Aufenthalt dort, stirbt aber auf der Reise, 31-jährig, und hinterlässt Frau und Kinder in Genf. Er war zuvor schon mehrfach nach Konstantinopel gefahren und so ist möglicherweise er, nicht sein Onkel, der Verfertiger der Uhr im Uhrenmuseum Beyer. Mit etwas Fantasie lässt sich in der Gravur im oberen Zifferblatt eine Ansicht des Topkapi-Palastes vermuten, zumindest finden sich Kuppelbauten in dieser Form in westlichen Städten nicht. Ein noch gewichtigerer Hinweis ist die damals bei kleinen Uhren noch höchst seltene Komplikation der Mondphase und des Mondalters, die im religiösen Leben der Türken ein grosse Rolle spielten. Die Datierung der Uhr um 1650 bis 1660 ist auf jeden Fall zutreffend. Vielleicht ist es eine der letzten von Jacques Sermand d. J. vor seiner Abreise gefertigten Uhren?
Genfer Uhrmacher erobern die Welt
Was brachte die Uhrmacher dazu, bis nach Konstantinopel zu reisen? Abenteuerlust und der Wunsch, der sittenstrengen, kargen Heimatstadt in ein wärmeres, farbigeres und reiches Land zu entkommen, spielten sicher eine Rolle. Ausschlaggebend war jedoch die Suche nach Absatzmärkten. Eine vorsichtige Schätzung geht davon aus, dass in Genf um 1680, also noch vor der zweiten grossen Einwanderungswelle der Hugenotten im Anschluss an die Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes 1684, jährlich etwa 5 000 Uhren hergestellt wurden. Herstellung und Verkauf waren arbeitsteilig organisiert, der protestantische Arbeitsethos führte zu einer stetig wachsenden Produktion. Vermutlich hatte die Stadt zu dieser Zeit etwa 15 000 Einwohner. Etwas genauere Zahlen gibt es für das Jahr 1693: Die Stadt hat 16 111 Einwohner, davon 3 300 Refugiés, viele Uhrmacher. Die in Genf so zahlreich hergestellten Uhren mussten exportiert werden.
Jean Arlaud
Mehr Glück als die Sermands hatte die Familie Arlaud: Antoine Arlaud (1590-?) aus der Auvergne erhielt 1617 das Genfer Bürgerrecht. Er sendete 1632 über Marseille an den Hof von Konstantinopel eine Lieferung von Uhren mit Schlagwerk und Mondphasen, sein Sohn Abraham und weitere Nachfahren arbeiteten für längere Zeit in der Türkei. Noch gibt es eine Uhr im Uhrenmuseum Beyer mit osmanischen Zahlen auf dem Zifferblatt und einer Mondphase, die auf der rückwärtigen Platine in osmanischer Schrift signiert ist mit «Jean Arlaud». Die Familie in Genf wurde sehr vermögend und brachte mit Jacques-Antoine Arlaud (1668 bis 1743) einen bedeutenden Porträtmaler und Miniaturisten hervor, der auch mit diplomatischen Aufträgen seiner Heimatstadt betraut wurde. Denn die kleine Stadt Genf, ein winziger Punkt auf der Landkarte, war seit dem 17. Jahrhundert auch durch die Tatkraft und den Unternehmungsgeist ihrer Refugiés weltweit vernetzt. Faszinierend, nicht wahr?