
Zukunft von vorgestern
von Dieter Günther | Fotos: General Motors
- 6. Juni 2018
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Auch in früheren Jahrzehnten machte sich die Autoindustrie schon Gedanken über den Wagen von morgen. Anlässlich der New York Worldʼs Fair 1964 feierte der futuristische RunAbout als eine Art Einkaufswagen mit Einkaufswagen seinen Einstand. Und sagte dabei mehr über Gesellschaftsstrukturen als über die Zukunft aus.
Die General Motors Corporation, kurz GM, hatte üppig angerichtet. In einem eigenen Pavillon präsentierte der damals weltgrösste Autokonzern eine aufwändige, Futurama genannte Show, die unter dem Motto «The Future of Reality» zu einer Reise in nicht allzu ferne Zeiten lud. Dabei nahmen die Besucher wie in einer Geisterbahn in Sesseln Platz, um dann durch geheimnisvolle Miniaturwelten mit Unterwasserhotels samt einem Pendelverkehr zwischen Mond und Erde zu gleiten. Unrealistisch, gar utopisch, erschien das nicht: Für viele Amerikaner war das «Space Age» bereits angebrochen, hatte die US-amerikanische Aeronautik- und Raumfahrtbehörde NASA doch schon 1961 ihr Apollo-Mondprogramm vorgestellt. Verständlich, dass sich bis zum Ende der Weltausstellung am 17. Oktober 1965 rund 26 Millionen Menschen von diesen virtuellen Expeditionen faszinieren liessen.
Dass sich der GM-Pavillon mit gleich drei Concept-Cars schmückte, verstand sich von selbst: Firebird IV, GM-X und RunAbout, hier mit grossem «A» geschrieben, waren eigens für diesen Anlass gebaut worden und säumten nun, von den GM-Leuten dekorativ auf Stelzen gepackt, die «Avenue of Progress». Besondere Aufmerksamkeit erregte der beinahe zierliche RunAbout, ein innen wie aussen stahlblauer Faustkeil mit üppig verglaster Kanzel und drei verkleideten Rädern. Seine ungewöhnliche Bezeichnung bedeutete «Roadster» oder «kleiner Flitzer», stand im Amerikanischen aber meist für ein flinkes offenes Sportboot. Mit Wasser oder gar mit Raumfahrt hatte der RunAbout freilich nichts im Sinn, er war, ganz erdverbunden-profan, als agiler Stadt- und Einkaufswagen speziell für Hausfrauen konzipiert. Neben seinem so funktionalen wie attraktiven, von GM-Designchef Bill Mitchell verantworteten Outfit hatte der Zweitürer mit der grossen Heckklappe allerhand mehr oder weniger sinnvolle Spielereien auf Lager. So liess sich das Vorderrad zum Ein- und Ausparken auf engstem Raum nach dem Entriegeln einer Sperre um 180 Grad drehen, und als Kommandozentrale gab es eine Schalttafel mit zwei grossen Dreh- und zwei kleinen Druckknöpfen – aber kein Lenkrad. Umlaufende Kunststoffleisten schützten vor Parkremplern, und die gläserne Ladeluke liess sich mittels elektrischen Signals öffnen. Ein besonderes Highlight war der Einkaufswagen mit automatisch ausklappenden Rädern, der sich als Teil der Karosserie aus dem Heck des RunAbout ziehen liess. Waren die Besorgungen im Supermarkt erledigt, schoben Mrs. Smith oder Miss Miller ihren Einkaufswagen wieder in ihren Einkaufswagen. Daheim wiederholte sich dieses Schauspiel, nur dass diesmal die Küche des Hauses angesteuert wurde. Genial! Dumm nur, dass es an der Grundvoraussetzung eines jeden Automobils haperte: Der RunAbout hatte keinen Motor, fuhr also nicht. Was daran lag, dass GM seinem Stadtauto statt eines herkömmlichen Triebwerks einen Elektromotor verpassen wollte, dessen Batterie eine Reichweite von 150 Kilometern ermöglichte und nachts wieder aufgeladen werden konnte. Leider führte die vielleicht auch nur halbherzig betriebene Umsetzung dieses lobenswerten und fortschrittlichen Ansatzes zu keinerlei Ergebnissen.
Wir wissen nicht, ob amerikanische Frauenverbände und Feministinnen gegen den RunAbout – der mit dem Geld verdienenden Mann und der sich um Haushalt und Familie kümmernden Frau ein tradiertes Rollenverständnis zementierte – Sturm liefen. Wir wissen aber, dass für Mrs. Smith und Miss Miller der Führerschein bereits selbstverständlich war, als bei uns Frau Schmidt und Fräulein Müller noch hart darum kämpfen mussten.
Und was wurde aus dem RunAbout? Der blieb ein Schaustück ohne Motor, ein Muster ohne Wert. Und verschwand, nachdem er 1965 nochmals an gleicher Stelle in New York glänzen durfte, in der Versenkung. Nicht jedes Zukunftsmodell hat eben Zukunft.
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