
Visuelle Notizen
von Helena Ugrenovic | Titelbild: Stephen Shore
- December 18, 2017
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Seine Fotos halten Alltagssituationen fest. Eine rotweisse Milchpackung auf knallrotem Untergrund, Tankstellen, eine ausgedrückte Zigarettenkippe, der beleidigte Gesichtsausdruck einer Katze. Banalitäten. Schnappschüsse des Lebens, zufällig und fesselnd. Stephen Shore, amerikanischer Fotograf, wichtigster Vertreter der «New Color Photography» und einer der bedeutendsten Fotografen der Gegenwart.
Dass er den Mut hat, sich der Norm zu entziehen, beweist Stephen Shore als 14-jähriger Junge, der kurzerhand Edward Steichen, den damaligen Director of Photography des «Museum of Modern Art» in New York, anruft und fragt, ob er sich nicht einmal seine Bilder ansehen wolle? Steichen hat gerade Zeit und kauft ihm, beeindruckt von der Qualität der Fotografien, drei davon ab. Ein paar Jahre später begegnet Shore bei einer Underground-Filmvorführung Andy Warhol, was sich als erster Schritt auf einem glitzernden Regenbogen entpuppen soll. Er wird Teil der berühmten «Factory», des Ateliers in der East 47th Street in Manhattan, das in die Geschichte der Popkultur eingehen wird und wo sich vor Ideen übersprudelnde Köpfe die Klinke in die Hand geben. Stephen Shore ist fasziniert von Andy Warhol, dem Enfant terrible und Provokateur der Künstlerszene, der als Gefahr für die Allgemeinheit gilt, sowie vom schillernden Kosmos, der in diesem Studio pulsiert. Über Jahre hinweg verbringt der damals 17-Jährige fast seine gesamte Freizeit bei Warhol und porträtiert dessen Freunde und Künstler auf eine unverfälschte, authentische Art. Natürliche Szenen, gekonnt in Szene gesetzt, die unweigerlich Fragen aufwerfen: «Ja und was jetzt? Wer ist der Mensch, dem diese Schuhe gehören?» Es ist das Markenzeichen von Stephen Shore.
Der Revoluzzer
«Etwas Spektakuläres zu sehen und zu realisieren, dass es sich um eine fotografische Möglichkeit handelt, macht noch lange kein gutes Bild aus», erklärte Stephen Shore in einem Interview, «jedoch das Gewöhnliche, etwas, das du jeden Tag siehst und realisierst, dass es einen Schnappschuss wert ist – das ist es, was mich interessiert.» Seine Vision von der gewöhnlichen Welt ist schon seit Jahrzehnten vorhanden, noch bevor sie millionenfach auf Facebook oder Instagram nachgeahmt und das gläserne Ich in Bildern dargestellt wird. Shore, Mitbegründer der «New Color Photography» in Amerika, reist im März 1972 von New York aus quer durch die USA über Texas bis nach New Mexico. Der damals 25-Jährige fotografiert alles, was ihm vor die Linse kommt, und es ist vieles. Mit der Kamera hält er fest, was er isst, wo er schläft, jede Toilette, die er besucht, jeden Menschen, dem er begegnet. Es entsteht ein visuelles Tagebuch und gleichzeitig ein «Corpus Delicti», das Amerika empört. Als seine Ausstellung «American Surfaces» im «Metropolitan Museum of Art» ausgestellt wird, ernten seine Farbbilder des amerikanischen Alltags jede Menge Spott und ist die Berichterstattung in der Presse niederschmetternd. Der grosse Paul Strand prophezeit ihm gar unmissverständlich einen katastrophalen Karriereschritt, ausgelöst durch seine «vulgären Farbbilder».
Das Ausnahmetalent
Entgegen allen negativen Prognosen werden Stephen Shores Arbeiten seit 45 Jahren ausgestellt, und ist er der erste lebende Fotograf, der seit Alfred Stieglitz vierzig Jahre zuvor im New Yorker «Metropolitan Museum of Art» eine Einzelausstellung hatte. Mit seiner Ausstellungsreihe weckt er in den frühen 1970er Jahren neues Interesse an der Farbfotografie und an der Verwendung der Kamera für dokumentarische Arbeiten. Stephen Shore veröffentlicht mehr als 20 Bücher seiner Fotografien und ist seit 1982 Direktor des Fotografie-Programms am «Bard College» in Annandale-on-Hudson in New York.