Unterwegs in Frankreichs Speisekammer – Geniesserregion Rhône-Alpes
- 10. Oktober 2013
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Ville de gueule wird Lyon von den Franzosen respektvoll genannt. Tatsächlich besitzt die Stadt der Gaumenfreuden am Zusammenfluss von Rhône und Saône mit mehr als 1800 einschlägigen Adressen die höchste Restaurantdichte des Landes und bei einer spontanen Umfrage nach den berühmtesten Söhnen und Töchtern der Stadt fällt fast immer als Erstes der Name Paul Bocuse. Der Hohepriester der Nouvelle Cuisine hat den fruchtbaren Landstrich, der sich von den schneebedeckten Gipfeln der Hochalpen bis hinunter zu den Lavendelfeldern der Provence erstreckt und die Départements Haute-Savoie und Ain im Norden, Loire im Westen sowie Ardèche und Drôme im Süden umfasst, die die Kapitale Lyon wie einen Ring umschliessen, denn auch treffend als garde-manger de la France bezeichnet. Höchste Zeit also, unseren Nachbarn im Südwesten einen Besuch abzustatten.
Das Gourmetwarenhaus Frankreichs
Schliesslich stammen viele der begehrtesten Zutaten der französischen Spitzengastronomie aus der Region. Zum Beispiel das weltberühmte Geflügel aus der Bresse, hervorragende Süsswasserfische aus klaren Bergströmen und den unzähligen Seen und Teichen der Dômbes, darunter Hecht, Karpfen, Saibling, Aal oder Flusskrebse, hervorragendes Obst aus den Monts Lyonnais, Oliven aus Nyons, Maronen aus der Ardèche, Gemüse aus dem fruchtbaren Tiefland von Ain, Artischocken aus Vaulx-en-Velin. Ausserdem zahlreiche der besten Käse des Landes, zum Beispiel Tomme de Savoie, Beaufort, Reblochon oder Saint-Marcellin. Kurzum: ein wahres Schlaraffenland! Nicht zuletzt ist Rhône-Alpes auch das grösste Weinanbaugebiet des Landes mit seinen weltberühmten Tropfen aus dem Vallée du Rhône oder den einfachen, aber schmackhaften Weinen des Beaujolais.
Ausgangspunkt unser hochkalorischen Tour de Force ins kulinarische Herz der Grande Nation ist dabei natürlich Lyon, denn die Stadt mit einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte nimmt seit jeher eine Sonderstellung im kulinarischen Kosmos Frankreichs ein, denn traditionelle Regionalküche und Spitzengastronomie sind nirgendwo sonst enger verwandt. Ihr Bindeglied sind die legendären Mères Lyonnaises, die Mütter der Lyoner Gastronomie. Als die Seidenindustrie, bis weit ins 19. Jahrhundert wichtigster Wirtschaftszweig der Stadt, mit dem Ende des Kaiserreichs in eine Krise geriet, waren zahlreiche Seidenbarone gezwungen, ihre Hausangestellten zu entlassen. Die machten aus der Not eine Tugend und eröffneten in und um Lyon kleine Restaurants und Gaststätten. Statt aufwendigen Pièces montées servierten die ehemaligen Dienstboten in ihren zunächst meist einfachen Gaststuben nun bodenständige Gerichte auf Basis preiswerter Zutaten wie Innereien, die jedoch mit demselben Raffinement zubereitet wurden wie die kolossalen Bratenstücke vergangener Tage. Und das mit durchschlagendem Erfolg, denn binnen kürzester Zeit waren diese von Frauen geführten Etablissements für den kleinen Geldbeutel bei Handwerksburschen, Stallknechten und Arbeitern ausserordentlich beliebt. Damit knüpften sie nahtlos an die uralte Tradition der Lyonnaiser Bouchons an.
Zu Besuch in einem traditionellen Bouchon
In diesen mehr oder weniger rustikalen Kneipen mit rot-weiss karierten Tischdecken und dickwandigen Gläsern fliessen bis heute Beaujolais und Côtes du Rhône in Strömen, die meist offen im traditionellen 0,46-l-Mass ausgeschenkt werden. Eine vernünftige Unterhaltung ist dank des weinseligen Geräuschpegels meist kaum möglich, aber gerade weil es hier so ausgelassen zugeht, macht ein Abend in einem Bouchon so viel Spass. Die meisten dieser Lokale, die man am Label «Authentique Bouchon Lyonnais» beziehungsweise «Les Bouchons Lyonnais» im Fenster erkennt, liegen im Stadtzentrum. Das Gütesiegel garantiert Gästen original Lyonnaiser Küche mit hochwertigen Produkten aus der Region. Empfehlenswerte Adressen sind zum Beispiel das «Café des Fédérations» in der Rue Major Martin oder das «Bouchon des Filles» in der Rue Sergent Blandan. Letztgenannte Adresse bietet eine entschlackte Variante der ansonsten recht fetten und schweren Traditionsrezepte. Doch Kalorienzähler werden in Lyon ohnehin nicht glücklich. Unbedingt probieren sollte man den Salat aus gekochten Lammfüssen, Geflügelleber, Hering und hartgekochten Eiern oder die in Butter gebratenen, panierten Lyonnaiser Kutteln oder vielleicht die lokale Variante des Boudin, der Blutwurst, die im «Bouchon des Filles» mit Äpfeln in Strudelteig eingebacken und begleitet von einem frischen Kräutersalat serviert wird. Vor dem Dessert gibt es stets Fromage – eine typische lokale Spezialität: Cervelle de canut, Frischkäse mit reichlich Knoblauch und Kräutern. Ein uraltes Rezept der Seidenweber. Die Portionen in den Bouchons sind übrigens riesig, die Preise dagegen sehr moderat.
Das Kronjuwel des Gastroimperiums
Doch zurück zu den Mères Lyonnaises. Als es ökonomisch schliesslich neuerlich bergauf ging, wanderten bei vielen Köchinnen auch wieder «bessere» Zutaten in die Kochtöpfe. Damit legten sie den Grundstein für die bis heute unverwechselbare Spitzengastronomie im Grossraum Lyon, die sich noch immer an den aufwendigen Rezepten der Belle Époque orientiert und so – ausser in Zitaten – im Rest Frankreichs praktisch nirgendwo mehr zelebriert wird. Ein Paradebeispiel ist die grandiose volaille demi-deuil («Poularde in Halbtrauer») der Mère Filloux. Der Clou: Trüffelscheiben werden direkt unter die Haut des edlen Federviehs geschoben und verleihen dem schneeweissen Fleisch eine exquisite Note, ohne dass das delikate Aroma des schwarzen Goldes beim Garen des Vogels entweichen kann. Noch heute steht dieses Rezept auf der Speisekarte der legendären L’Auberge du Pont von Küchenikone Paul Bocuse in Collonges au Mont d’Or. Die wurde seit 1965 jedes Jahr mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet und ist das Kronjuwel im Gastroimperium des mittlerweile fast 87-jährigen Ausnahmekochs, zu dem auch mehrere Brasserien in Lyon und eine erstklassige Hotel- und Restaurantfachhochschule im Château du Vivier in Écully gehören. Die hat mit dem «Saisons» ebenfalls ein exquisites Restaurant zu bieten, wo sich Schülerinnen und Schüler der kulinarischen Kaderschmiede um das leibliche Wohl der Gäste kümmern. Ausserdem ist das Institut Paul Bocuse die einzige Einrichtung ihrer Art, die selbst ein veritables 5-Sterne-Hotel betreibt, nämlich das Hotel Royal direkt an der zentralen Place Bellecour im Herzen Lyons. Doch begonnen hat alles in der L’Auberge du Pont.
Das in quietschbunten Bonbonfarben gestrichene Restaurant, die das ganze Ensemble ein wenig wie ein überdimensioniertes Macaron wirken lassen, ist für viele Feinschmecker bis heute ein absolutes Must: einmal im Leben zu Bocuse! Ein Besuch gleicht einer Zeitreise in die grossbürgerliche Behaglichkeit der 60er und 70er Jahre. Auf der Karte stehen fast ausschliesslich Klassiker wie die berühmte Trüffelsuppe, die Bocuse 1975 anlässlich der Aufnahme in den erlauchten Kreis der Ritter der Ehrenlegion für den Élysée kreierte. Wer es moderner und ein wenig leichter mag, dem seien Bocuses Brasserien ans Herz gelegt. Hier geniesst man für 30 Schweizer Franken ein veritables Menu aus frischesten Zutaten. Besonders empfehlenswert ist die Brasserie Sud mit mediterran angehauchter Küche – der Auberginentatar ist einfach himmlisch!
Interessanterweise verdankt Paul Bocuse einen Teil seiner kulinarischen Meriten ebenfalls einer Mère Lyonnaise, denn es war im Restaurant von Eugénie Brazier, einst Gehilfin von Madame Filloux, bei der das junge Talent einen Teil seiner Ausbildung absolvierte.
Eugénie Brazier ist die einzige Frau, die jemals mit drei Michelin-Sternen für gleich zwei Restaurants ausgezeichnet wurde. Noch heute existiert eines davon, La Mère Brazier, an der alten Adresse in der Rue Royale. Freilich steht dort heute mit Mathieu Viannay ein Mann am Herd, macht seiner berühmten Vorgängerin mit aktuell zwei Sternen aber alle Ehre und wurde 2004 zum besten Koch Frankreichs gekürt. In seinem Küchenstil mischen sich eigene Kreationen mühelos mit entschlackten Lyonnaiser Klassikern wie den berühmten Hechtklösschen mit Krebsbutter – Viannay serviert dazu freilich saftige Stücke bretonischen Hummers.
Weibliche Spitzengastronomie und süsse Köstlichkeiten
Apropos Frauen am Herd – zwar sind die Zeiten der Mères Lyonnaises vorbei, aber in Valence, eine gute Stunde von Lyon entfernt, haben sie in Anne Sophie Pic eine würdige Nachfolgerin gefunden. Die aktuell einzige französische Köchin mit drei Sternen lehrt ihre männlichen Kollegen, wenn nicht das Fürchten, so doch zumindest, dass es auch eine urweibliche Seite der Spitzengastronomie gibt. In ihrem «Maison Pic», direkt an der legendären Nationalstrasse 7, einst automobile Nabelschnur, die Paris mit den Küstenorten der Côte d’Azur verband, serviert die fast zerbrechlich wirkende, aber um so herzlichere Pic, in der ein wahrer Vulkan an Kreativität zu schwelen scheint, eine feminine, ätherisch leichte Aromenküche auf Weltklasseniveau. Zum Anwesen gehört auch ein hervorragendes Bistro, eine Kochschule, eine Épicerie und ein kleines, aber umso feineres Relais&Châteaux-Hotel mit 16 Zimmern, in denen es sich nach dem Dinner stilvoll schlummern lässt.
Auf dem Rückweg nach Lyon sollte man einen kleinen Abstecher nach Tain-l’Hermitage einplanen – dort haben nicht nur einige der bedeutendsten Winzer der Region ihr Hauptquartier, wie zum Beispiel die Maison Chapoutier, nein, die von aromatischen Röstaromen geschwängerte Luft kündet auch davon, dass direkt am Rhône-Ufer die Firmenzentrale von Valrhona liegt, Hersteller der wohl edelsten französischen Kuvertüre, die weltweit in den besten Patisserien zu kleinen Köstlichkeiten verarbeitet wird. Im Oktober 2013 eröffnet direkt neben der Fabrik ein grosses Schokoladenmuseum. Zurück in der Stadt darf ein abschliessender Besuch der berühmten Markthallen nicht fehlen. Umgeben von tristen Hochhausbauten im grauen Betonkleid der 60er und 70er Jahre und unweit des TGV-Bahnhofs Part Dieu offenbart sich uns nach Betreten des verglasten Flachbaus ein wahres Feinschmeckerparadies. Was hier verkauft wird, ist ausnahmslos von hervorragender Qualität und viele der Händler geniessen nicht nur in Lyon selbst einen beinahe schon legendären Ruf. Käse kauft man hier bei Mère Richard, die vor allem für ihren Saint-Marcellin gerühmt wird, Süsses kommt von Maître Chocolatier Sève, Variationen der Lyonnaiser Quenelles von Giraudet, Fisch ist am besten bei Pupier oder Durand, Geflügel bei Clugnet, Salers-Rindfleisch bei Trolliet und für die weltberühmten Lyonnaiser Würste wie die Jesús oder Rosette ist Madame Sibilia die erste Wahl. Guten Appetit!