
Triumph und Tragödie
Thomas Hauer
- 8. Oktober 2019
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Le Mans, Samstag, 11. Juni 1955, 18.26 Uhr. In Runde 35 des knapp zwei Stunden zuvor gestarteten 24-Stunden-Rennens auf dem rund 13 Kilometer langen Circuit de la Sarthe spielt sich eine dramatische Verfolgungsjagd ab.
Kurz vor der Haupttribüne überholt der führende Brite Mike Hawthorn mit der Startnummer 6 in seinem Jaguar gerade den langsameren Austin-Healey seines Landsmannes Lance Macklin, bremst dann aber unvermittelt scharf ab, um noch in die Boxengasse zu kommen. Macklin, von diesem Manöver überrascht, versucht verzweifelt nach links auszuweichen, übersieht dabei aber seine beiden Verfolger Pierre Levegh und Juan Manuel Fangio im Mercedes Silberpfeil. Während Fangio gerade noch knapp vorbeiziehen kann, touchiert der Franzose das Heck des vorausfahrenden Austin-Healey, das aufgrund seiner aerodynamischen Form auf den Silberpfeil wie eine Rampe wirkt. Der 300 SLR hebt ab und zerschellt an einem Erdwall nahe der Zuschauertribüne. Dabei wird der Mercedes regelrecht zerfetzt und geht in Flammen auf. Die umherfliegenden Wrackteile töten 83 Zuschauer auf den Rängen, und auch Levegh selbst erliegt noch am Unfallort seinen Verletzungen. Macklin dagegen überlebt. Die bis heute grösste Katastrophe der Rennsportgeschichte.
Trotz dieser Tragödie wird das Rennen fortgesetzt. Die offizielle Begründung: Ein Abbruch hätte die Rettungsarbeiten erschwert, weil die Zuschauer dann die Ausfallstrassen rund um das verschlafene Nest blockiert hätten. Tatsächlich besteht ein Grossteil der Rennstrecke bis heute aus Abschnitten einer Landstrasse.
Das bis dahin führende Mercedes-Team zieht, nachdem das Ausmass der Tragödie deutlich geworden ist, die verbliebenen zwei Silberpfeile aus dem Rennen zurück. Sieger wird am Ende mit Mike Hawthorn jener Fahrer, der mit seinem Bremsmanöver als eigentlicher Auslöser des Unfalls gilt. Sein Rennstall weist jegliche Schuld an der Katastrophe zurück, und auch Hawthorn selbst nimmt nie öffentlich Stellung. Obwohl aus Respekt vor den Toten auf eine Siegesfeier verzichtet wird, wirken die Bilder des lächelnden Hawthorn in Siegerpose, aufgenommen im Ziel, noch immer verstörend.
Tatsächlich gehören spektakuläre Unfälle in Le Mans trotz verbesserter Sicherheitsvorkehrungen bis heute zur Dramaturgie praktisch jedes Rennens – auch wenn es mittlerweile zum Glück nur noch selten Tote gibt. Zumindest auf Zuschauerseite. Und doch war es nicht zuletzt die Tragödie des Jahres 1955, die das 24-Stunden-Rennen von Le Mans zum Mythos gemacht hat.
Filme wie Steve McQueens Genreklassiker «Le Mans» (1971), der das fiktive Duell zweier Fahrer mit der psychologischen Dichte von «High Noon» inszeniert – nur, dass das Duell hier nicht mit Colts, sondern PS-starken Boliden ausgetragen wird, oder der Ende November in den Kinos anlaufende Streifen «Le Mans 66», in dem Matt Damon und Christian Bale den legendären Zweikampf zwischen Ford und Ferrari beim 24-Stunden-Rennen 1966 wieder aufleben lassen, liefern die passenden Bilder zu diesem testosteronschwangeren Heldenepos.
Legendär ist vor allem die knapp fünf Kilometer lange Mulsanne Straight – ein fast schnurgerader Streckenabschnitt des Rundkurses, auf dem die Fahrzeuge dank immer leistungsfähigerer Motoren irgendwann Geschwindigkeiten jenseits der 400-km/h-Marke erreichten, bis der Bereich 1990 schliesslich aus Sicherheitsgründen mit zwei Schikanen entschärft wurde, weshalb die Fahrer hier heute in der Spitze «nur» noch etwa 340 km/h schnell sind.
Und tatsächlich gilt das 1923 zum ersten Mal ausgetragene Langstreckenrennen als eines der härtesten der Welt – für Mensch wie Material. Das Ziel: in 24 Stunden nicht nur möglichst viele Runden absolvieren, sondern am Ende überhaupt die Ziellinie zu überqueren.
Durften Reparaturen früher nur von den Fahrern selbst mit Hilfe von Bordwerkzeug vorgenommen werden, stehen den Rennteams heute wie in der Formel 1 Boxen mit angegliederten Werkstätten an der Strecke zur Verfügung, wo ganze Heerscharen von Mechanikern fast alle Probleme, die während eines Rennens auftreten, wieder beheben können. Um diese schon im Vorfeld zu erkennen, werden die Boliden von unzähligen Sensoren überwacht – besser als jeder Patient auf einer Intensivstation.
Nach einem Besuch in der Boxengasse stellt sich allerdings die Frage, wie viel des «Originalautos» am Ende eigentlich noch über die Ziellinie fährt, denn getauscht werden darf grundsätzlich alles. Theoretisch selbst der komplette Motor. Nur wenn ein Fahrer fern der Boxengasse auf der Rennstrecke liegenbleibt, ist das Rennen für ihn und sein Team gelaufen.
Für die etwas triste, wirtschaftlich abgehängte, rund 142ʼ000 Einwohner zählende Stadt Le Mans ist das Rennen, das die ländlich geprägte Region am Zusammenfluss von Sarthe und Huisne Jahr für Jahr rund um das zweite Juniwochenende in eine Art Tollhaus verwandelt, von geradezu schicksalhafter Bedeutung. Nicht nur im Hinblick auf das angeschlagene Selbstbewusstsein, sondern auch wirtschaftlich, denn viele Menschen verdienen sich bei den diversen Rennställen und Sponsoren ein Zubrot, denn lukrative Jobs sind hier, fernab von Paris und den industriellen Zentren des Nordens, seit jeher Mangelware.
Das Rennen selbst – traditionell erfolgt der Start am Samstagnachmittag um 15 Uhr – beginnt für die meisten Besucher dabei im Stau, denn bis heute zieht Le Mans Jahr für Jahr rund 200ʼ000 Rennbegeisterte in seinen Bann, die die schlecht ausgebauten Zufahrtsstrassen zur Rennstrecke im Süden der Hauptstadt des Département Sarthe verstopfen. Egal ob sie nun mit einem liebevoll gepflegten 2CV oder einem Supersportwagen im Gegenwert eines Einfamilienhauses unterwegs sind. In dieser Hinsicht gibt man sich in Le Mans egalitär – schliesslich stehen alle in der Blechlawine.
Mit der Egalité ist es dann aber spätestens auf dem Gelände der Rennstrecke vorbei. Denn wer nicht zu den Happy Few gehört, die sich dank der Einladung eines Rennstalls oder eines der Sponsoren in der Tasche in den luxuriös ausgestatteten VIP-Areas aufhalten dürfen, denen bleibt nichts anderes übrig, als sich – wahlweise unter glühender Sonne oder in strömendem Regen – an den Sicherheitszäunen die Nasen platt zu drücken. Im Innern der luxuriös ausgestatteten, oft mehrstöckigen Zeltkonstruktionen dagegen fliesst der Champagner zu ausgesuchten Delikatessen in Strömen. Apropos Zelt: Campen ist die in Le Mans bei weitem häufigste Form der Unterkunft, denn es herrscht ein eklatanter Mangel an adäquaten Hotelunterkünften – schliesslich befindet man sich hier in der tiefsten Provinz. Deshalb mieten zahlreiche Rennställe und Sponsoren auch gerne schicke Châteaus in der Umgebung an, wo Topkunden und VIPs, denen man keinen Zeltplatz oder ein Ibis-Hotel zumuten zu können glaubt, dann standesgemäss untergebracht werden. Helikoptertransfer zur Rennstrecke inklusive, versteht sich. Mancher Hersteller macht dagegen aus der Not eine Tugend. So lädt die britische Sportwagenmanufaktur Aston Martin Kunden und Journalisten seit einigen Jahren kurzerhand zum Glamping. Bei dieser Nobelvariante des Campings logieren Gäste in grosszügigen Tipizelten, die es in Sachen Komfort problemlos mit einer Luxuslodge im Serengeti-Nationalpark aufnehmen könnten. Für das leibliche Wohl der Gäste sorgt ein waschechter Sternekoch. Rund um die Uhr, versteht sich. Angenehmer Nebeneffekt – binnen kürzester Zeit sind alle Bewohner des Zeltdorfes auf Du und Du. Egal ob Auto-begeisterter Multimillionär oder normalsterblicher Motorsportfan, dessen private Motorisierung nicht über die 64 PS eines 18 Jahre alten VW Polo hinausgehen. Hier sind alle gleich.
Doch zurück auf die Strecke. Gestartet wird das Rennen seit 1971 nicht mehr nach der 1925 eingeführten Le-Mans-Methode, bei der die Fahrer nach der Startfreigabe über die Fahrbahn zu ihren vor der Boxengasse aufgereihten Fahrzeugen sprinten mussten, sondern es gibt einen fliegenden Start im Anschluss an eine Einführungsrunde. Grund dafür war unter anderem die Einführung von Sicherheitsgurten im Jahr 1969 – das Anlegen dauerte in den engen Cockpits einfach zu lange und verzerrte den Startablauf.
Antreten dürfen in Le Mans aktuell vier Fahrzeugklassen, die alle gleichzeitig fahren, was unerfahrene Zuschauer am Anfang ziemlich verwirrt, zumal sich das Feld dank zahlloser Überholmanöver im Laufe des Rennens immer weiter in die Länge zieht und nur noch die zahllosen Monitore die aktuellen Rankings verraten. Neben zwei Prototypklassen sind das seriennahe GT-Sportwagen. Einmal mit professionellen Fahrern an Bord, einmal gesteuert von Amateuren. Wobei der Begriff Amateur hier nicht allzu wörtlich genommen werden darf. Die innerhalb der 24 Stunden zurückgelegten Distanzen sind gewaltig. Den Rekord hält das Audi-Team mit 5410 Kilometern im Jahre 2010, was einem Durchschnittstempo von mehr als 225 km/h entspricht. Alle Boxenstopps und Fahrerwechsel inklusive.
Für viele Zaungäste ist das Renngeschehen, abgesehen vom Start, den die Franzosen als martialische Militärshow inszenieren, an deren Ende Alpha Jets der Patrouille de France beim Überflug über die Haupttribüne die Trikolore in den Himmel malen, und dem Zieldurchlauf, ohnehin nur Nebensache. Im Zentrum steht unbeschwertes Volksfest-Gefühl. Untermalt vom messerscharfen Sound der Motoren, die den Adrenalinspiegel selbst bei Rennsportneulingen in die Höhe treiben. Die unzähligen Verkaufsbuden, Imbisse, Schausteller und Fahrgeschäfte, die rund um die Strecke aufgebaut sind, bieten ausserdem zusätzliche Zerstreuung.
An Schlaf ist während des Rennens ohnehin nicht zu denken. Selbst auf dem rund zwei Kilometer Luftlinie von der Rennstrecke entfernten Glamping-Gelände hat man den Eindruck, in regelmässigen Abständen drehe ein hysterisch gewordener Rasenmäher seine Runden um das Zelt. Also wieder aufstehen – zum Glück gibt es ja den 24-Stunden-Barbetrieb. Kein Wunder also, dass manche Glamper am Sonntagmorgen nicht mehr so ganz taufrisch wirken.
Zurück in der VIP-Hospitality auf dem Renngelände fällt ebenfalls auf, dass mancher sich nicht mal mehr die Mühe macht, den Rennverlauf vom Balkon aus live mitzuverfolgen, sondern sich viele damit zufriedengeben, das Geschehen auf einer überdimensionalen Videoleinwand zu verfolgen. Erst als die Zeiger der Uhr sich – endlich – 15 Uhr nähern, füllt sich die Balustrade noch einmal, und die Fahrer, die es ins Ziel geschafft haben, werden auf ihrer Ehrenrunde bejubelt. Die Siegerehrung scheint dann fast schon Nebensache. Wer nicht rechtzeitig seine Zelte abbricht, steht sonst wieder im Stau. Kaum zwei Stunden nach Rennende beginnt auch schon der Abbau, und in nur einem oder zwei Tagen wird das Gelände wieder in einen Dornröschenschlaf fallen, und ganz Le Mans träumt dann schon vom nächsten grossen Rennen. Der Mythos lebt.
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