The Great Train Robbery – Ronnie Biggs
- 10. Juli 2012
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«Ich hatte ein grossartiges Leben, ich bereue nichts.» Ein bisschen verwegen sah er schon immer aus. Die damals braunen Haare, die sich im Nacken wellen und die er nach hinten kämmt, verleihen ihm den Look eines Dandys und Künstlers, der reichen Damen jede noch so extravagante Kunst andrehen könnte. Am Tag seines 34. Geburtstages beschliesst Ronny, ein anderes Ding zu drehen und «feiert» mit 15 Freunden eine Party der besonderen Art. Der königliche Postzug rattert in der Dunkelheit der Nacht als attraktives Geschenkpaket von Glasgow nach London über die Schienen. 2,6 Millionen Pfund, die heute einem Wert von ungefähr 61 Millionen Schweizer Franken entsprächen, sollen der Startschuss in ein neues Leben sein. Präzise durchdacht und mit «Samthandschuhen» geht der grosse Zugraub als Jahrhundertraub in die Geschichte ein. Am 8. August 1929 wird Ronnie Biggs in Lambeth, einem Stadtteil Londons, geboren. Bis zu seinem 34. Geburtstag arbeitet und lebt er als Zimmermann mit seiner Ehefrau Charmian Rothen und seinen beiden Söhnen in Redhill im südlichen England. Passend zum kleinbürgerlichen Leben in dem Vorort Londons ist auch Biggs kriminelle Karriere, die sich eher auf kleine Fische als auf grosse Haie beschränkt. Das überschaubare Kleinganoventum ändert sich an dem Tag, als die eigentlichen Posträuber Bruce Reynolds und Ronald Edwards die «Fulham-Boys», denen auch Ronnie angehört, für den legendären Zugraub anheuern. Ronnie ist ein Mitläufer, der weder mit der Idee noch mit der Planung des Überfalls etwas zu tun hat. Durch seine spektakuläre Flucht, den enormen Medienrummel sowie sein Jahrzehnte dauerndes Exil in Brasilien wird Ronnie sowas wie ein König der Diebe. Doch der plötzliche Reichtum mit dem vermeintlichen Schlüssel zum Glück scheint verflucht zu sein, denn Ronnies als grossartig interpretiertes Leben ähnelt eher dem trostlosen Dasein einer gescheiterten Existenz als dem eines von der Sonne geküssten Lebens im Samba-Rhythmus an der Copacabana.
In the heat of the night
50 Kilometer nordwestlich von London, nahe bei Cheddington, liegt eine Gruppe von 16 Männern auf der Lauer. Sie sind generalstabsmässig organisiert und haben einen raffinierten Plan geschmiedet. Nichts soll dem Zufall überlassen werden und keine unerwartete Situation ihren Plan vereiteln. In dieser Nacht ist ihnen das Schicksal wohlgesonnen. In dieser Nacht wird ein besonders hoher Geldbetrag transportiert. Der sogenannte «Surplus Cash» ist überzähliges Bargeld, das die schottischen und einige nordenglische Banken auf diesem Weg regelmässig zu ihren Londoner Zentralen schicken. An diesem Tag sind es kleine Scheine von 1- und 5-Pfund- Banknoten (der heutige Wert läge bei 20- beziehungsweise 100-Euro -Scheinen), die massenweise in Säcke gestopft sind.
Die Farbe des Geldes
Es ist der 8. August 1963, 3:05 Uhr und der 34. Geburtstag von Ronnie Biggs. Entlang der Bahnstrecke von Glasgow nach London, circa zwei Kilometer nördlich des verschlafenen Örtchens Cheddington, wird der Zug durch zwei manipulierte Signale an einer einsamen Stelle zum Stehen gebracht. Der Lokführer Jack Mills wird mit einem Schlag auf den Kopf bewusstlos geschlagen und das überraschte Zugpersonal festgenommen. Da sich der Geldwaggon nur einen Wagen hinter der Diesellok befindet, können die übrigen Waggons getrennt werden. Die Bande fährt mit der Lokomotive und dem Geldwaggon 800 Meter weiter bis zur Bridego-Brücke, um ihre Beute zu entladen. Weil sich die Original-Hochsicherheitswaggons im Ausbesserungswerk befinden, sind stattdessen relativ ungesicherte Waggons eingesetzt worden, was den Posträubern das Aufbrechen der übrigen Wagen ziemlich einfach macht. Die Diebe sind schnell, zielsicher und laden 120 Geldsäcke in die wartenden Fluchtautos. Ronnie Biggs’ Anteil beträgt nach eigenen Angaben 148 000 Pfund, was heute einem Wert von 2,3 Millionen Euro gleichkäme.
Catch us if you can!
Zunächst sucht die Polizei vergebens nach Spuren, doch Scotland Yard ist sich einig, dass die Gentlemen-Diebe zuerst ihre Beute an einem geheimen Ort gemeinsam zählen und teilen werden, bevor sie sich in alle Winde verstreuen. Die grösste Fahndungsaktion der britischen Polizeigeschichte und die höchsten jemals ausgesetzten Belohnungen sollen zusätzlichen Druck auf die Posträuber ausüben. Jede leer stehende Scheune, jedes Gebüsch und jede Farm im näheren Umkreis werden abgesucht, bis schliesslich ein Landwirt den entscheidenden Hinweis auf die Leathersdale Farm gibt, die sich gerade mal 25 Kilometer vom Tatort befindet. Das Scotland-Yard-Team unter der Führung von Chief Superintendent Jack Slipper, dem «Slipper vom Yard», verhaftet 13 Räuber.
Ronnie Biggs wird im Jahr 1964 gefasst und zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Zahl 8 scheint eine spezielle Bedeutung in Ronnie Biggs Leben zu haben, denn am 8. Juli 1965 gelingt ihm mit drei weiteren Häftlingen die Flucht, die den Beginn einer abenteuerlichen Reise mit ungewissem Ende anschlägt. Mit einer Strickleiter klettern sie über die Aussenmauer und springen in einen präparierten Möbelwagen. Biggs flieht mit seiner Familie nach Paris, besorgt dort gefälschte Papiere und verändert mit einer Gesichtsoperation auch sein Äusseres. Mit seiner Frau und den zwei Söhnen flieht er weiter nach Australien in die Stadt Blackbourne. 1974 flüchtet Ronnie Biggs ohne Familie nach Rio de Janeiro.
Kein Leben am Zuckerhut
Ronnie Biggs lebt zwar nahe am berühmten Berg Rios, doch ist sein Dasein kein Zuckerschlecken. Das meiste Geld hat er verprasst, er ist völlig mittellos, und auch elf Jahre nach dem Raubüberfall ist ihm Scotland Yard noch immer auf den Fersen. «Der Slipper vom Yard» möchte Ronnie endlich wieder hinter Gitter bringen und reist im selben Jahr wie Biggs nach Brasilien, doch kann er den Gentleman-Dieb dennoch nicht verhaften. Da die britische Regierung Straftäter aus dem Vereinigten Königreich nicht nach Brasilien ausliefert, kann auch Biggs im umgekehrten Sinn nicht den britischen Strafverfolgungsbehörden ausgeliefert werden. Ausserdem erwartet die Stripperin Raimunda de Castro, eine brasilianische Staatsangehörige, ein Kind von Biggs, was eine weitere Behinderung darstellt. Biggs darf zwar unangetastet in Brasilien leben, doch aufgrund seines Status als Verbrecher nicht arbeiten. Mit dem erneuten Versuch Jack Slippers, Biggs zu verhaften, erlebt Biggs eine wiederkehrende Popularität und nutzt diese für den Verkauf von T-Shirts und Kaffeebechern mit seinem Konterfei. Ein bescheidenes Gehalt verdiente sich Ronnie mit Werbung für Alarmanlagen und er bot abenteuerlustigen Touristen für 60 US-Dollar ein Frühstück mit einem echten Verbrecher sowie seinem Rottweiler «Blitzkrieg» an.
Feudal, angenehm und ohne Geldsorgen hätte sein Leben verlaufen müssen. Ronnie Biggs ist zwar kein Gefängnisinsasse , aber auch kein freier Mann. Er ist der Sklave seiner Tat und Gefangener in seiner Flucht-Oase, in der ihm täglich vor Augen geführt wird, wie sinnlos und armselig im Grunde genommen alles ist. Auch zeitweilige Auftritte mit den «Sex Pistols» und den «Toten Hosen» vermögen das Leben im Leerlauf nicht zu befriedigen.
Home, sweet Home
Am 7. Mai 2011 , mit 71 Jahren, nach 35 Jahren Flucht und nach 30 Jahren in Brasilien, kehrt Ronnie Biggs aus gesundheitlichen Gründen nach England zurück. Die britische Boulevardzeitung «The Sun» hat ihm den Rückflug in einem Privatjet spendiert und sich damit verschiedene Auslagen als Gegenleistung für Exklusivrechte gesichert. Als Biggs auf dem Militärflugplatz Northolt landet, wird der alte Mann von 60 Scotland-Yard-Beamten festgenommen. Biggs erleidet mehrere Schlaganfälle und einen Herzinfarkt und wird am 6. August 2009, zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag, aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes doch noch begnadigt und aus der Haft entlassen.