Staatsfeind Nummer 1 – John Herbert Dillinger
- 10. Juli 2012
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«The Roaring Twenties» in Chicago stehen nicht nur für die Weltwirtschaftskrise, enger geschnallte Gürtel und hoffnungslose Bürger. Während Jazz-Grössen wie Louis Armstrong, Earl Hines oder Jelly Roll Morton die rauchgeschwängerten Nachtclubs zum Kochen bringen, dirigiert der korrupte und intrigante FBI-Direktor J. Edgar Hoover ein ganzes Orchester bestechlicher Polizisten und neu gekrönter Gangstergrössen. In dieser Konstellation begnügt sich John Dillinger nicht mit der Nebenrolle eines zarten Streichers. Gezielt ballert er sich in die Hauptrolle und ist der erste Mann, der vom amerikanischen FBI den Titel «Staatsfeind Nummer 1» erhält. Der Mann mit der Kerbe im Kinn, dem schiefen Lächeln und den eiskalten, taxierenden Augen, der in späteren Jahren innerhalb von nur zwölf Monaten die höchsten Sprossen seiner Gangster-Karriere erklimmt, wird am 22. Juni 1903 in den späten Abendstunden in der Nähe von Indianapolis geboren. Nicht in ihren schlimmsten Albträumen hätten seine Eltern John und Mollie damals, als sie ihr zweites Kind in den Armen wiegen, gedacht, dass auf ihren Sohn eines Tages das bis anhin höchste Kopfgeld der Moderne – 25 000 Dollar–ausgesetzt würde. Die schuftende Mittelklasse in Oak Hill ackert sich durch lange Tage und wackelige Existenzen. John Dillinger senior sichert mit seinem hart verdienten Geld als Händler ein bescheidenes Einkommen für die kleine Familie, in der Drill und Ordnung herrschen. Die Eltern erziehen ihren Sohn in aller Strenge und bestrafen ihn hart bei Missverhalten. Züchtigung und Disziplin sollen aus John einen verantwortungsbewussten Mann machen, der in der Zeit der nahenden Depression weiss, wem ausschliesslich das Leben gibt – nämlich nur demjenigen, der im Schweisse seines Angesichts so hart arbeitet, bis Blut aus den aufgeschürften Händen und Blasen quillt.
Kurze Idylle
Als John drei Jahre alt ist, stirbt Mutter Mollie und die ältere Schwester Audrey übernimmt nach diesem frühen Tod die Mutterpflichten. Entgegen zahlreicher Überlieferungen, John Dillinger sei aufgrund seiner von Herzlosigkeit geprägten Kindheit der Staatsfeind Nummer eins geworden, ist John ein netter und höflicher Junge, der bekannt dafür ist, anderen Kindern Süssigkeiten zu schenken. Speziell hübschen Mädchen. John ist ein intelligenter junger Mann und arbeitet, nachdem er die Schule verlässt, in einer Maschinenfabrik. Er ist ein guter Arbeiter, doch zunehmend gelangweilt vom eintönigen Alltagsbrei beginnt er damit, sich nächtelang herumzutreiben. Die Familie zieht nach Mooresville im Glauben, dass die ländliche Gegend John vom Ärger fernhalten wird. Der Beginn der Depression mit immer mehr sozial geschwächten Familien verleiht der Kriminalität nicht nur einen fruchtbareren Nährboden, sondern erhebt diese auf ein illusorisches Podest. Gangster sind moderne Freibeuter, die der Armut trotzen und sich das nehmen, was sie wollen und von dem die anderen denken, es niemals haben zu können. Diesen Anreiz will sein Vater im Keim ersticken. Überdrüssig vom öden Landleben, vertreibt sich der 17-Jährige die Zeit im Wald beim Jagen und Schiessen auf Eichhörnchen, Kaninchen und Opossums und entdeckt dabei seine Qualitäten als Meisterschütze.
Metamorphose
John ist eine tickende Zeitbombe, deren Explosion weder die gesunde Landluft noch ausgedehnte Streifzüge durch die Wälder von Mooresville verhindern können. Während Oliver Macy und seine Frau in der Kirche der Predigt lauschen, debütiert John bei seiner ersten Straftat. Er stiehlt das Auto des Ehepaars, brettert damit nach Indianapolis und verpflichtet sich bei der Navy, um sich der Verhaftung zu entziehen. Als sein Schiff auslaufen soll, erscheint er nicht und wird danach als Deserteur gesucht. Später wird das Verfahren eingestellt und John unehrenhaft aus der Navy entlassen. Zurück in Mooresville, lernt er Beryl Hovious kennen und heiratet sie im April 1924. Das Eheleben ist harmonisch und John erweckt den Anschein, als hätte er sich die kleinkriminellen Hörner abgestossen. Er arbeitet in einer Polsterei, tritt der Baseballmannschaft des Städtchens bei und geniesst mit Beryl das Leben.
Zur falschen Zeit am falschen Ort und die falsche Person kennengelernt? Oder kitzelt sein Sportkamerad Ed Singleton lediglich das aus John heraus, was schon lange in ihm schlummert? Als Ed ihm eines Tages im Rausch vorschlägt, den Kaufmann des Städtchens, Frank Morgan, zu überfallen, zögert John nicht lange. Der Überfall misslingt und John Dillinger wird zu 10 bis 20 Jahren Knast verurteilt, von denen er 9 Jahre seines Lebens im Morgan County Gefängnis absitzt. Da der Staatsanwalt seinem Vater zugesichert hatte, ein geständiger Ersttäter würde mit einer milden Strafe davonkommen, war John ohne Rechtsbeistand vor den Richter getreten. Durch das scharfe Urteil an John gewarnt, organisiert Ed Singleton einen Rechtsbeistand und plädiert vor dem Richter auf «nicht schuldig». Lediglich zwei von den verhängten 14 Jahren sitzt er ein. Dillingers lange Gefängnisstrafe schürt seine Wut und seinen Groll gegenüber der Justiz. Ehrlichkeit versus Lüge. Während Johns Aufrichtigkeit ihm 9 Jahre hinter Gittern bescheren, wird Eds Schlauheit mit einer Minimalstrafe belohnt. Das System ist morsch.
Hinter Gittern
Die erste Gelegenheit für einen Ausbruch bietet sich John, als er als Zeuge vom County-Gefängnis vor Gericht gebracht wird. Doch wie bereits der Überfall auf den Krämerladen misslingt auch sein Fluchtversuch. Gebeutelt durch die eh schon unfaire Gefängnisstrafe und niedergeschmettert, dass er weiterhin in diesem Loch sitzen muss, wandelt sich Dillinger zu einem rebellischen Gefangenen und verbitterten Mann, der sich gegen alle Vorschriften stemmt und immer wieder wegen Ungehorsams bestraft wird.
Die Ära als Staatsfeind Nummer 1 beginnt am 10. Mai 1933, als er endlich freigelassen wird und kurz darauf eine Bank in Bluffton, Ohio, überfällt. Vier Monate später, im September, werden John Dillinger und seine Bande gefasst und landen im Staatsgefängnis von Lima in Ohio. Mit Hilfe von Gewehren, die ihnen in die Zellen geschmuggelt worden waren, gelingt es einem Teil der Bande auszubrechen und dabei einen Wächter zu töten. Jedoch vergessen die entflohenen Häftlinge ihren Kumpel John nicht und kehren am 12. Oktober zurück, um Dillinger zu befreien. Beim Feuergefecht, das der Befreiungstrupp sich mit Wärtern und Ordnungshütern liefert, wird ein weiterer Polizist erschossen. Das FBI, das zu Hilfe gerufen wird, kann in kürzester Zeit anhand der Fingerabdrücke die Täter identifizieren.
Ausbruch
Dillinger raubt mit seiner Bande mehrere Banken sowie zwei Waffenlager der Polizei aus und erbeutet mit den Maschinengewehren, der Munition und kugelsicheren Westen das Arbeitsmaterial für die nächsten Überfälle. Zwei Tage später erschiesst John Hamillton, ein Mitglied der Bande, einen Polizisten in Chicago, und beim nächsten grossen Überfall auf die National Bank von Chicago wird ein weiterer Polizist von einer Kugel tödlich getroffen. Dillinger flüchtet mit seiner Gang nach Florida und von dort nach Tucson. Im Januar 1934 bricht ausgerechnet in dem Hotel ein Feuer aus, in dem sich die Bandenmitglieder Clark und Makley unter falschen Namen versteckt halten. Aufmerksame Feuerwehrmänner haben ihre Gesichter aufgrund von Fahndungsfotos erkannt, sodass die Gangster von der lokalen Polizeibehörde, genauso wie Dillinger und Harry Pierpont, gefasst werden können.
Das Staatsgefängnis von Crown Point in Indiana gilt als ausbruchsicher und der Mord am Polizisten in Chicago soll John Dillinger das Genick brechen. Doch am 3. März 1934 gelingt ihm erneut die Flucht und später wird John damit prahlen, dass er die Wachen mit einer aus Holz und Schuhcreme gebastelten Attrappe einer Pistole bedroht habe und sie damit zwang, die Zellentüre zu öffnen. Mit seiner Flucht begeht er einen schwerwiegenden Fehler. Als er das Auto des Sherrifs stiehlt und damit nach Chicago flieht, ahnt er nicht, dass er dabei ist, sein eigenes Grab zu schaufeln. Damit verstösst er gegen das Nationale Kraftfahrzeug-Diebstahl-Gesetz, das daraus ein Bundesvergehen macht, da Dillinger mit einem gestohlenen Auto die Grenze eines anderen Bundesstaates passiert.
«Manhattan Melodrama»
In Chicago schliesst sich John Dillinger Lester Gillis «Baby Face Nelson», Eddie Green und Tommy Carrol an und die Gang setzt fort, was sie am besten kann – Banken ausrauben und Geld verprassen. Sie plündern und sie töten in immer anderen Städten und J. Edgar Hoover, der berüchtigte FBI-Direktor, verpflichtet Special Agent Samuel A. Cowley, die Ermittlungen gegen Dillinger zu leiten. Amerikas legendärer Verbrecherjäger Edgar Hoover ist intrigant, korrupt, ein Komplize der Mafia-Bosse und aufgrund seiner Homosexualität erpressbar. Die Erschiessung von John Dillinger macht jedoch einen Helden der Nation aus ihm. Das FBI erhält einen Hinweis, wo sich Dillinger versteckt hält, und fährt mit mehreren Autos dorthin. Dillinger gelingt die Flucht.
Anna Sage, die eigentlich Anna Cumpanas heisst, kam 1914 aus dem österreichisch-ungarischen Banat, heute Rumänien, in die Vereinigten Staaten. Sie ist eine Bekannte von Dillingers Freundin Polly Hamilton und sie möchte eine dauerhafte Einbürgerung durch die Einwanderungsbehörde erwirken. Dafür braucht sie Geld. Am 21. Juli 1934 kontaktiert sie das FBI und ist bereit, Dillinger gegen eine gute Bezahlung zu verraten und sich die begehrte Staatsbürgerschaft zu erkaufen. Das FBI geht auf den Deal ein und Anna verrät, mit Dillinger und seiner Freundin Polly am nächsten Tag das Biograph-Kino in Chicago besuchen zu wollen, um den Film «Manhattan Melodrama» zu schauen. Als die «Ménage à trois» am 22. Juli das Kino verlässt, versuchen die FBI-Agenten Dillinger festzunehmen. Als Dillinger die drohende Gefahr wittert, versucht er blitzschnell, seine Waffe zu zücken. Doch die Agenten Charles Winstead, Clarence O. Hurt und Herman E. Hollis sind schneller und geben insgesamt fünf Schüsse ab, von denen drei davon John tödlich verletzen.
John Herbert Dillinger, der als kleiner Junge hübschen Mädchen Süssigkeiten schenkte, wird als Staatsfeind Nummer 1 auf dem Friedhof Crown Hill in Indianapolis beigesetzt.
Anna Cumpanas, die so gerne in Amerika geblieben wäre, erhält zwar das ausgesetzte Kopfgeld von 5000 Dollar, wird jedoch danach nach Rumänien abgeschoben.