
Sechs auf einen Streich
- 15. Juli 2016
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Mit dem eigenen Oldtimer über die Alpen, das ist immer etwas Besonderes. Wir sind diesmal erst losgefahren, als die Dämmerung hereinbrach – zu einer Passkontrolle der etwas anderen Art. Es gibt zwei klassische Tabuthemen in der Oldtimerszene. Da wäre zum einen die Autobahn – eine mit blechernen Belanglosigkeiten überfüllte Piste der Moderne, die höchstens als Transferstrecke zu anderen, verlockenden Destinationen taugt. Dabei wird auch negiert, dass die erste Schweizer Autobahn auch schon über 60?Jahre alt ist und im benachbarten Deutschland in den 1930ern Rekordversuche auf Fernstrassen unternommen wurden. Das grössere «No-Go» aber ist – die Nachtfahrt. Zwar gibt es ein paar Ausnahmen wie den italienischen Winter-Marathon, die britische Le Jog, eine historische Rallye Monte Carlo, die in der Schweiz erstmals 1998 ausgetragene Moonwalk Trophy (www.fridayclassic.com) oder das jährlich stattfindende Alpenbrevet (www.alpenbrevet.com). Doch davon abgesehen kennen wir keine offiziellen Oldie-Veranstaltungen, die bei Dunkelheit stattfinden. Anders als früher, als heutige Veteranen nagelneu waren, haben sie nach 22?Uhr in der Garage zu warten. Auf ihren nächsten Auftritt bei Tageslicht, sonst sieht sie ja niemand?…
Nachtfahrt in altem Gefährt
Nun sind wir mit altem Gerät bereits mehrfach nächtens unterwegs gewesen, sei es bei der Heimfahrt von einer Veranstaltung oder nach einem sommerlichen Abendessen, das dann doch etwas länger dauerte. Und wir haben es durchaus genossen, weil es ganz anders war – intensiver, dazu sensitiver. Man achtet mehr auf mechanische Geräusche, kontrolliert die Instrumente etwas öfter als sonst, atmet die Aromen der Heizung ein. Und man geniesst – viel weniger Verkehr.
Nun ist eine Nachtfahrt im Neuwagen heute nichts Besonderes: alles wie immer, einfach nur – dunkler. Umso intensiver leuchten die Displays diverser Assistenzsysteme – sind uns zwischen Smartphone mit Echtzeit-Wetterbericht und Satelliten-Navigationssystem mit Sprachsteuerung vielleicht die Sinne und Instinkte abhandengekommen? Wir machen die Probe aufs Exempel und bereiten uns auf eine nostalgische Tour vor – mit zeitgenössischem Proviant wie Scho-Ka-Kola, dicken Lederjacken und faltbaren Strassenkarten der späten 1950er-Jahre, die uns zeigen, welche Routen es damals schon gab. Im Gegenzug wird auf Fleece-Unterwäsche, Sitzheizung, LED-Kurvenlicht, Spurassistent, Handy oder Bildschirm-Routenführung verzichtet.
Aber wohin soll die abenteuerliche Reise gehen?
In die Berge natürlich! Sechs Pässe müssten zu schaffen sein; schliesslich wollen Fotopausen eingeplant werden und einen Kaffee wollen wir auch irgendwann trinken. Ein gemütlicher Zeitplan hat ausserdem den Vorteil, dass er einen nicht unter Druck setzt: Wenn wir zügig fahren wollen, dann aus freien Stücken und bei entsprechender Sicht und Witterung, also situativ, ganz ohne Agenden abzugleichen, E-Mails zu beantworten oder «Schaut mal, das ist der Gipfel!»-Selfies abzusondern. Herrlich! Frei sein mit nur einem einzigen Ziel – analoge Fortbewegung, ganz jenseits von Multitasking. Passt ja auch viel besser in eine ursprüngliche Gneis-und-Granit-Landschaft, der die Zeit anscheinend nichts anhaben konnte. Klingt nach einem guten Plan, aber ist er auch durchführbar? Wir werden es erleben?…
Die Wahl des Transportmittels ist schnell entschieden: meine Alfa Romeo Giulia Spider Veloce Baujahr 1964 – ganz einfach weil sie für genau solche Gelegenheiten gebaut wurde und immer wieder gerne Richtung Italien unterwegs ist. Die Geschichte unserer Beziehungskiste ist eine klassische: Das Auto ist seit 20?Jahren bei mir und soll es bleiben; zuvor parkte die Giulia 25?Jahre lang bei einem in Deutschland lebenden italienischen Pizza-Bäcker. Fünf noch frühere Jahre diente der Alfa einem US-Soldaten als ebenso günstiges wie aufregendes Transportmittel und wurde mit allerhand Zubehör veredelt – eine VDO-Uhr stammt aus dieser Zeit, ebenso die Blaupunkt-Lautsprecher in Keksdosen-Grösse. Die ersten beiden Jahre sind dagegen unbekannt. Ein Wagen mit sichtbarer Geschichte und der einen oder anderen Narbe, aber er trägt sie mit Stolz. Restauriert? Nein, warum? Stattdessen wurde in den Erhalt der Originalsubstanz investiert, die Aussenhaut zeigt derweil Patina. Nicht zuletzt schreien stilechte Extras wie die kürzlich montierten, sündhaft teuren 60er-Jahre-Marshall-605-Fernscheinwerfer förmlich danach, einmal eingesetzt zu werden.
Alles an dieser Tour ist ungewöhnlich, gleich von Anfang an
Denn unser Startpunkt ist das Grimsel Hospiz, jene steinerne Manifestation der klassischen Berg-Herberge, deren Gästezimmer nach einer Restaurierung und ab dem Jahr 2010 wieder im klaren Bauhaus-Stil alter Tage erstrahlen. Wer das Hospiz noch nie besucht hat, sollte das nachholen, denn dort finden müde Wanderer, Biker und andere Pass-Besucher eine der stilvollsten, aber auch gediegensten Unterkünfte der gesamten Alpen vor. Die Sonnenauf- und -untergänge hier suchen ihresgleichen, und weil das so ist, wird die Reservierung dringend empfohlen (www.grimselwelt.ch) – auch an einem Dienstag wie diesem. In unserem Fall dient das Nachmittags-Nickerchen zum «Batterien aufladen», wird das Abendbrot zum Frühstück, denn bei Sonnenuntergang wollen wir aufbrechen – leider ohne einen Dezi aus dem benachbarten Wallis gekostet zu haben: Im Felsenkeller lagern 300 verschiedene Weine und einige von ihnen werden ein andermal probiert, versprochen. Stattdessen trinken wir Tee, der Kellner weiss um unseren Plan und lächelt verständnisvoll. Nein, auch kein Drei-Gänge-Menü – bestellt werden ein leichter Salat und Äpfel als Proviant. Dann brechen wir auf: Nochmal den Ölstand kontrollieren und einen letzten gemeinsamen Blick auf die historische Hallwag-Karte im Massstab 1:200?000 werfen – ganz so wie früher, als dies die einzig verlässliche Orientierungshilfe in der Fremde gewesen ist. Das ist aufregend; ein wenig erschrecken wir sogar vor unserem kühnen Plan – und bestätigen die Route: Über den Grimsel-Pass wird es ganz klassisch zum Furka gehen, bevor wir Andermatt passieren und den knapp 2100?Meter hohen Gotthard und seine legendäre Südrampe Richtung Airolo in Angriff nehmen wollen. Von dort aus soll der Abstieg Richtung Bellinzona erfolgen, wo es dann nach einer scharfen Halse wieder aufwärts gehen wird Richtung Nordosten: Es gibt keine bessere Verbindungsetappe zum San Bernardino. Anschliessend wollen wir den Splügen rechts liegen lassen und bei Tiefencastel erneut nach Süden abdrehen, um über den knapp 2300?Meter hohen Julier das Engadin und via Sankt Moritz unseren sechsten und letzten Pass zu erreichen – den nahe der italienischen Grenze gelegenen Bernina. Insgesamt warten rund 300?Kilometer auf uns, die wir mit einem kräftigen Brunch in Pontresina abschliessen möchten – die Zimmer zum Ausschlafen im Hotel Saratz sind schon gebucht. So weit der Plan?…
Um 19?Uhr ist es in der warmen Jahreszeit noch hell hier auf der Grimsel – nur wirklich warm ist es nicht. Zunächst geniessen wir acht Grad Celsius, doch die Temperatur fällt im Viertelstundentakt, während die untergehende Sonne das einzigartige Bergpanorama illuminiert. Parallel konzentriert sich unsere Alpentour auf runterschalten, bremsen, lenken, Gas geben und herausbeschleunigen – ist es eigentlich legitim, diese beeindruckende Umgebung auszublenden? Ein bejahendes Argument liefert Autor Otto Julius Bierbaum mit seinem Buch «Eine empfindsame Reise im Automobil», in dem steht, dass Schweizer Alpenpässe nur nachts von Automobilen befahren werden dürfen, um den Tagesverkehr nicht zu irritieren – niedergeschrieben anno 1908!
Die Guilia singt
Die asphaltierte Grimsel-Spitze mit ihren 2164 Meter ist schnell genommen, die europäische Wasserscheide zwischen Nordsee und Mittelmeer damit überquert. Jetzt sind wir im Wallis und die Giulia singt – das animierende Geräusch der zwei Weber-Vergaser und andere mechanische Klänge des handzahmen Veloce-Rennmotors heben sich klar von den wenigen Windgeräuschen ab, werfen ihr Echo in den Fels. Der Furkapass liegt schon im Dunkeln, als wir seine in östlicher Richtung liegende Bergauf-Passage angehen. Wir sind ganz allein; seit Abfahrt sind uns vielleicht zwei Autos entgegengekommen. Wäre es jetzt früher Nachmittag, wie viele Motorräder und Oldtimer würden wohl unterwegs sein – ganz zu schweigen von Velo-Athleten, Campern und Reisebussen? Auf jeden Fall wäre es eine Blech-Karawane im Schneckentempo. Artgerechtes Ausfahren historischer Fahrzeuge sieht anders aus. Wir lachen uns eines, geniessen das exklusive Fahrerlebnis und müssen gar nicht schneller sein als erlaubt – Tempo?80 erscheint uns auf vielen Abschnitten mehr als genug. Der Himmel ist sternenklar, die Aussichten oben auf dem Furka sind einzigartig.
Inzwischen sind wir im Kanton Uri und auch hier – kein anderes Auto weit und breit. Mehr als sechs Liter Öl haben inzwischen Betriebstemperatur aufgenommen, jede Kurve wird zum Ziel und der Spider Veloce zieht uns gierig durch die Serpentinen. Seine serienmässig schärferen Nockenwellen bieten ein erstaunlich grosses Leistungsfenster, das von 3000 bis 6000?Umdrehungen reicht. Darunter murrt die alte Dame zwar nicht, ist aber weniger willig. Also wird geschaltet, was das voll synchronisierte Fünfganggetriebe hergibt – dieser Sportwagen fühlt sich immer noch sehr sportlich an und war der automobilen Welt einst weit voraus, während Opel-Rekord-Fahrer ihre 1,7-Liter-Motoren mit drei Gängen und via Lenkradschaltung die Berge hinauf quälten – von Käfer-Besatzungen wollen wir hier gar nicht reden.
Inzwischen ist es zugig geworden, doch wohlige Wärme strömt aus den Heizungsdüsen. Dennoch halten wir in Realp kurz an, um das Verdeck hoch- und unsere Jackenkrägen wieder herunterzuklappen. Ein kurzer Blick auf die Karte bestätigt den Tageskilometerzähler – der ja auf unserer Tour gar nicht so heissen dürfte: Wegen diverser Fotopausen haben wir seit dem Start bereits zwei Stunden gebraucht und keine 60 Kilometer hinter uns gebracht. Ich rechne mir aus, wie lange wir wohl für die restliche Strecke benötigen werden, wenn wir in diesem Tempo weitermachen – und wo uns dann wohl der erste Sonnenstrahl trifft?…
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