Schrecklich schöne Aufnahmen – Der Fotograf Martin Parr
- 10. Oktober 2013
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Dicke Deutsche, sonnenverbrannte Briten und amerikanische Botox-Opfer: Kein Fotograf entlarvt nationale Ticks so gemein wie Martin Parr. Ob Tourismus, Wüste oder Geldadel – seine Bilder sind entlarvend, ironisch und oft sehr gemein. Er richtet seine Kamera auf die Banalitäten, Vulgarität und Abgründe des Alltags. Mit dem Blick des geübten Beobachters menschlicher und allzu menschlicher Verhaltensweisen fotografiert Martin Parr Sonnenanbeter, Strandverkäufer, Sandburgenbauer und Badende, wo immer er sie antrifft. Menschen am Strand haben den englischen Fotografen schon als Student interessiert. Weniger wegen der reichlich präsenten nackten Haut als wegen des Phänomens Strandleben als solches. Alle Strände dieser Welt scheinen sich zu gleichen, von kleinen Unterschieden, wie etwa der Zusammensetzung des Picknicks, einmal abgesehen. «Der Strand», sagt Parr, «ist einer jener raren öffentlichen Räume, an denen man, quer durch die Kulturen, alle Absurditäten und skurrilen Eigenheiten der jeweiligen Nation findet».
Magnum
Im englischen Epsom, Surrey, wurde Martin Parr 1952 geboren. 1970 begann er das Studium der Fotografie am Manchester Polytechnic, welches er bis 1973 verfolgte. In dieser Zeit beteiligte er sich an verschiedenen fotografischen Projekten, die sich, wie auch die späteren Arbeiten, bereits der fotografischen Dokumentation sozialer Gefüge und Bedingungen widmeten. 1994 wird er Mitglied der bekannten Fotoagentur Magnum.
Von den Fotografen Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, George Rodger und David Seymour wurde die Agentur im Jahr 1947 gegründet. «Magnum» sollte anders sein als andere Agenturen, denn die Gründer sahen sich zugleich als Künstler aber auch als Bildhändler. Mehr Künstlergemeinschaft als Auftragsvermittlung und mehr Fotografen-Kooperative als Bildhändler lautete die Devise. Und da ihre Arbeiten gefragt waren, konnten sie auch bei den Abnehmern durchsetzten, was Ihnen notwendig erschien. Fortan musste bei jeder Veröffentlichung der Name des Fotografen genannt werden und die Urheberrechte blieben bei den Fotografen – verwaltet durch «Magnum».
Wer nicht mitspielen wollte, bekam eben keine Bilder mehr. Die Magnum-Gründer und ihre Weggenossen sahen sich als eine Symbiose aus Künstlern und Reportern. Daher waren sie davon überzeugt, dass gerade ihr subjektiver Blick erst den Gang der Weltgeschichte wirklich dokumentierte. Sie arbeiteten nach ihren eigenen Regeln und ihre Bilder – so dachten sie – waren das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung mit der Realität und ausführlicher Recherchen über den Gegenstand ihre Reportagen.
Bis heute gehören rund 100 Fotografen der Fotoagentur. Die Namensliste liesst sich wie ein «Who is who» der Fotografie.
Der Einlass für Martin Parr in der «auserlesenen» Fotoagentur gestaltete sich ein wenig schwierig. Denn als er sich bewarb, galt er als sehr umstritten und viele bekannte Dokumentarfotografen empfanden ihn als unseriös und stimmten gegen ihn. Nach Jahren hartnäckiger Bewerbung wurde er endlich aufgenommen, knapp aufgenommen – eine Stimme weniger und er wäre erneut abgelehnt worden.
Zelebration der Klischees
Martin Parrs Interesse galt zunächst dem kleinbürgerlichen Leben in England, welches er jedoch in den kommenden Jahren international ausweitete. Szenarien des alltäglichen Einkaufs, des häuslichen Mittagstisches, der U-Bahnfahrt oder Einblicke in ein Callcenter sind in Parrs eigenwilligen, ausschnitthaften, teils unscharfen oder auch überbelichteten Bildern oft schnappschussartig und amateurhaft angelegt. Er scheut nicht vor der Wiedergabe von verbrauchten Klischees und kollektive Stereotypen zurück – die er anfänglich in der Mittelschicht fand, die aber schliesslich in der Mittel- und Oberschicht den Grossteil seiner Serien bildeten. Über die Unterschiede der Schichten sagt der Brite: «Traditionell dokumentieren Fotojournalisten meist die Armut auf der Welt, weil sie als das wichtigste Thema unserer Zeit gilt. Doch ich denke, dass heute nicht mehr die Armut das Hauptproblem ist, sondern der Reichtum. Es herrscht einfach zu viel Wachstum und Wohlstand».
Seine Fürsprecher schwärmen von seiner feinen Ironie, dem spöttischen britischen Humor und der Akribie, mit der er das moderne Leben szenisch einfängt. Seine Fotos amüsieren zunächst; unwillkürlich grinst man. Betrachtet man jedoch seine Fotos ein wenig länger, fällt auf, wie schonungslos er hinguckt und wie er auf den entscheidenden Moment wartet. Gnadenlos drückt er ab, wie den Revolver eines Cowboys im entschiedenen Moment – ein Klick und das Foto ist im Kasten. Nichts inszeniert, nichts verschönert – fast plakativ und wie aus einem Comic. Er zelebriert die Klischees, denn wie er sagt «Klischees werden zu Klischees, weil sie wahr sind. Wenn ich irgendwo fotografiere, versuche ich immer, diese Klischees im Kopf zu haben. Ich spüre sie auf und fotografiere sie».
Bei ihm sehen alle sonderbar aus, sogar ganz gewöhnliche Menschen. Die Welt ist schrecklich und zugleich schön. Und genau diese Mischung findet sich auch in seinen Bildern. Dafür geht er sehr nah ran – bis die Dellen der Orangenhaut hervortreten und der Rest von Bodylotion in der Halsfalte zu sehen ist. Seine Art der Fotografie hat ihm aber auch viel Häme eingebracht. Seine Bilder seien boshaft und zynisch, sagen die Kritiker. Henri Cartier-Bresson, einer der Wortführer bei Magnum, befürchtete bei seiner Aufnahmebewerbung, dass die humanistische Tradition der Agentur mit Parr untergehen würde. Magnum wollte Krieg und Armut in der Dritten Welt dokumentieren, Parr dagegen interessierte sich für die profan-provozierende Lebensrealität in der Ersten Welt. Für ihn waren die Grabenkämpfe längst vergessen.
Er hält uns einen Spiegel vor und porträtiert indiskret die soziale Wirklichkeit mit dem Materialismus und den Exzessen der Massenkultur. Jedoch auch diese Seite des sozialen Manifestes besitzt eine gewisse Sympathie – das Kitschige, das nicht-perfekte und den menschlichen Makel. Er ist kein Misanthrop, wie viele seiner Gegner insinuieren, denn er mag die Menschen und das, was er mit der Kamera festhält, ist nicht anders als die Realität, die ihm begegnet. Es sind Momentaufnahmen, die einen bestimmten Menschenschlag für eine bestimmte Zeit konservieren. Und das, was auf den ersten Blick wie ein Schnappschuss aussieht, entpuppt sich rasch als subtile Komposition und ein raffiniertes Arrangement.
Entlarvender Blick
Nun hat der britische Fotograf in der Schweiz auf Lauer gelegen, um bildhaft festzuhalten, dass auch hierzulande die Klischees zutreffen. Denn die Klischees von der Schweiz sind es, die Martin Parr für seine Fotoserie «Think of Switzerland» aufgreift – in der aktuellen Ausstellung «Souveniers» im Museum für Gestaltung in Zürich. «Dies soll keine objektive Studie über die zeitgenössische Schweiz sein», so Martin Parr. «Es ist das Statement eines Künstlers. Ich sage Ihnen sicher nicht, welches Statement es ist, denn ich bin der Fotograf.» Die Ausstellung wirft einen Blick auf die plakative Schweiz. Wieder sind es die Bilder, die man zu kennen glaubt: Goldbarren, Käsefondue, Berge und Würste in Folie eingeschweisst. Ob umstritten, zynisch, geschmacklos oder als enfant terrible betrachtet, Fakt ist: Martin Parr ist längst Kult.