Melancholie und Leidenschaft
- 11. März 2016
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Tango ist Musik und Tanz, Leben und Leidenschaft, das Spiel zwischen Mann und Frau, Tango ist die Seele des südlichen Amerikas. Der Tango ist ein Kind zweier Mütter, geboren in den Schwesterstädten Buenos Aires und Montevideo. In den Bäuchen der Häfen, deren Wasser man in Buenos Aires noch Fluss und in Montevideo schon Meer nennt.
Der Klang der Gestrandeten
In den Schänken des Hafens, am südlichen Rand des neuen Kontinentes, der für viele Anfang, Chance und Neubeginn verspricht, sitzen die Übriggebliebenen. Hier verladen Schiffe den Reichtum der ehemaligen Kolonien, den Weizen und das Rindfleisch, die dem Land und den Menschen abgetrotzt wurden, und löschen die wenigen Waren aus der Alten Welt mitsamt den Menschen, die in die Städte und Weiten der Pampas strömen, um von neuem zu beginnen.
In den Schänken sitzen die, deren Neubeginn vorbei ist. Im Dunst von Schnaps und Bier wiegen sie sich zu den Tönen ihrer Väter wie die Wellen, die sich an der Küste brechen. Der Flamenco Spaniens, der Gesang der Pampas und die Habenera, die Rhythmen der ehemaligen Sklaven, die hier nichts mehr verloren haben und hier doch verloren sind. Die Töne vermischen sich wie der Dunst im Zweivierteltakt zum Tango. Wie die Ernüchterung frisst sich der neue Klang aus den Häfen in die Vorstädte, an den Prachtbauten der Herrschenden vorbei, in die Gassen, die Mietskasernen, in ihre Schenken und Bordelle und schlägt Flammen.
Erste Tango-Pandemie
Die Halbstarken in den Vororten tanzen den Tango so, wie die Gauchos mit den Messern kämpfen. Die Prostituierten der Bordelle tanzen ihn zwischen Essen und Beischlaf mit den reichen Söhnen der guten Gesellschaft. Da Frauen rar sind, tanzen Männer miteinander zu den Klängen von Gitarre und Flöte, um die neuen Schritte zu lernen. Doch erst als das Bandoneon um 1870 am Río de la Plata landet, findet der Tango seine Stimme – ein Blasebalg schenkt dem Ende der Welt seine Eigenart. Der Tango wird langsamer, melancholischer und tiefer und findet im Vierachteltakt seinen Rhythmus. Auf einem der Schiffe, die Waren nach Europa bringen, landet der neue Tanz in Marseille und erobert Paris wie die Syphilis. Es ist, als hätte die Modemetropole nur auf einen neuen Tanz gewartet und – anders als in Südamerika – ist es die gute Gesellschaft, die sich dem Tango hingibt. In den Salons um den Place de l´Étoile, in den Cafés, Theatern und Cabarets wiegt sich Paris 1912 im vierachtel Takt, diskutiert über Tanzschritte und -formen, sucht händeringend nach Lehrern und infiziert London, New York und Berlin. Es wird von über 390 Tanzschritten berichtet, die reich verziert, aber sinnlich-abgemildert als Standardtanz über das Parkett führen. Der Tango beeinflusst selbst die Mode. Man trägt Orange, das Korsett wird, um sich bewegen zu können, abgelegt, die Hutfeder wandert in die Vertikale und «Argentinien» ist schockiert: Tanz, Musik und Sprache der Zuhälter, Prosituierten und Verbrecher – nichts anderes waren die Ärmeren für sie – werden zum Symbol ihrer Heimat und zu ihrem neuen Vorbild, da Paris die Mode bestimmt.
Die goldene Zeit
Und so kommen Argentinien und Uruguay ungewollt zu ihrem nationalen Schatz. Mit dem Wandel der Sozialstrukturen und unter dem Einfluss der Pariser Mode wandert der Tango in die Cafés und Clubs in der Innenstadt. Man nimmt sich dem nationalen Bankert an und man formt ihn zu seinem authentischen Kind. Schon 1923 wird der Prince of Wales in der Casa Rosa zu den Klängen eines Tangos empfangen und in den Tango-Salons spielen die Tango-Orchester zum Tanz. Ein halbwegs guter Bandoneon-Spieler verdient bald mehr als ein höherer Angestellter und die Avenida Corrientes summt nachts wie ein Bienenstock. Es bricht die goldene Zeit des Tangos an, in der es an jedem Tag, in jedem Viertel Milongas gibt. Jedes Viertel, jeder Club hat seinen Dialekt, seine eigene Art zu tanzen. Zwischen 1935 und dem Militärputsch 1955 tanzt mehr oder weniger ganz Buenos Aires und entwickelt den Tanz, die Musik und den Gesang immer weiter. Auch wenn er seinen verruchten Ruf abstreifte, blieb es doch ein sinnlicher Tanz, weniger rau als in den Anfängen und doch impulsiv. Der Weg über den Tanzboden wird vom Mann vorgegeben, seine Schritte lassen der Frau etwas Raum zum freien Spiel, das Aufmerksamkeit und Hingabe fordert, ein Spiel von Begierde, doch eben nur ein Spiel. Die Hüften berühren sich nicht. Der berühmteste Tänzer war El Chafaz, Ovidio José Bianquet, der sich aus den lasterhaften Etablissements über die höchste argentinische Gesellschaft bis nach Europa tanzte. Neben seinen Choreographien war er für seine eleganten Schritte und Figuren berühmt, die ihn bis an die Metropolitan Opera brachten. Mit dem Aufkommen des Rock ’n’ Roll und dem Militärputsch 1955, der auch Schutzmassnahmen für einheimische Musik stürzte, endete die goldene Zeit des Tangos abrupt.
Die Renaissance der Leidenschaft
Als Argentinien 1983 von der Last der Diktatur befreit aufatmete, sah man sich um und begann zu tanzen. Es waren die Jungen, die für sich den Tango entdeckten und sich mehr schlecht als recht den alten Tanz wieder erarbeiteten. Wer etwas Neues konnte, zeigte es den anderen und Buenos Aires begann sich wieder langsam im Takt zu wiegen. Die politische Lage war stabil und so wagten sich die alten Tänzer der goldenen Zeit wieder hervor und begannen ihren Tanz zu lehren. Nelly und Miguel Balmaceda waren in den 80er Jahren die wichtigsten Lehrer, die den Tango wiederauferstehen liessen. Man tanzte komplizierte Schrittfolgen und schloss wieder an die Techniken der 40er und 50er an. Bei Antonio Todaro lernten viele Bühnentänzer, die in den 90er Jahren mit Shows wie «Tango por dos» und «Tangopassión» den Tango-Wahn in Europa neu entzündeten. Es folgte die Art des «Estilo Milonguero», ein Tango ohne komplizierte Formen, bei dem sinnlicher, privater getanzt wird. Unter dem neuentdeckten Kulturgut Tango ist Buenos Aires zur Pilgerstätte von Tangueros geworden. Und in manchen Cafés spielen heute noch die Stars von gestern auf.
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