
Madame Pic und die Geheimnisse der Wälder von Jorat
von Thomas Hauer
- 25. Juli 2022
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Anne-Sophie Pic gehört nicht nur bereits zur dritten Generation ihrer Familie, die vom Guide Michelin hintereinander mit der Höchstnote ausgezeichnet wurde, die bekannteste Küchenchefin der Grande Nation war 2007 auch die erste Frau in Frankreich seit mehr als 70 Jahren überhaupt, über deren Restaurant drei der begehrten Sterne aufgingen, die sie seitdem Jahr für Jahr verteidigt hat.

Vor Madame Pic haben diesen Olymp der Kochkunst bei unseren Nachbarn nur Eugénie Brazier – wichtigste Mentorin von Kochlegende Paul Bocuse – und Marie Bourgeois (beide 1933) sowie Marguerite Bise (1951) erklommen. Gleichzeitig ist Pic mit aktuell acht Michelin-Sternen, neben den dreien für die «Maison Pic» in Valence, je zwei für ihre Restaurants «Anne-Sophie Pic» im «Beau-Rivage Palace» in Lausanne und das «La Dame de Pic» in London, sowie ein weiterer für dessen Pariser Pendant, gar die vom Guide Rouge höchstdekorierte Frau der Welt und Vorbild für weibliche Nachwuchstalente rund um den Globus. Und weitere Sterne für ihre neuesten Outlets in Megève und Singapur sind wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit.
Und auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht so scheint, als sei der Erbin einer Gastronomendynastie, deren Geschichte mehr als 130 Jahre zurückreicht, das Erfolgs-Gen schon in die Wiege gelegt worden, verdankt Anne-Sophie ihren heutigen Kultstatus in Wahrheit vor allem einem eisernen Willen und harter Disziplin. Sich in der Testosteron-geprägten Welt der französischen Haute Cuisine durchzusetzen, war für die gerade mal 1,58 Meter grosse Autodidaktin mit der warmen, leisen Stimme, trotz ihres grossen Namens, nämlich alles andere als ein Spaziergang.

Nachdem Pic zunächst ein Wirtschafts- und Managementstudium am renommierten Pariser Institut Supérieur de Gestion absolviert und unter anderem in Japan und den USA Projekte für Cartier und LVMH betreut hatte, entschied sie sich nach dem frühen Tod ihres Vaters Jacques im Jahr 1992, erst mit Mitte 20, ins Rhône-Tal zurückzukehren, um das anfangs fast erdrückende Erbe der «Maison Pic» anzutreten. Die hatte bereits ihr Grossvater André nach dem Umzug der Familie von Saint-Péray, wo er in der «Auberge du Pin» 1934 erstmals drei Sterne erkocht hatte, 1936 an der vielbefahrenen Avenue Victor Hugo in Valence eröffnet.
Zu Beginn noch an der Seite ihres Bruders, war Anne-Sophie ab 1997 dann alleinverantwortlich für die Geschicke des Familienunternehmens. Eine Herausforderung, an der auch grosse Namen leicht hätten scheitern können, nicht so Anne-Sophie. Nach 10 Jahren harter Arbeit war der dritte Stern, der 1995 verlorengegangen war, schliesslich zurückerobert und die Familienehre wiederhergestellt. Und es war kein Geringerer als Paul Bocuse, der Anne-Sophie Pic damals als «Mère Brazier des 21. Jahrhunderts» feierte. Der Rest ist Geschichte.
Müsste man Anne-Sophie Pics Küchenstil in nur drei Worten zusammenfassen, könnte man ihn vielleicht am besten als «Harmonie in Gegensätzen» beschreiben. Pics Teller bewegen sich nämlich weit jenseits des in der Spitzengastronomie über Jahre gepflegten Dreiklangs von weich, süss und gefällig, begeistern vielmehr oft durch die Kombination von im ersten Moment fast unvereinbar scheinenden Geschmackseindrücken – so zum Beispiel, wenn sie Austern mit einem rauchigen Whisky und Kaffee zusammenbringt. Gleichzeitig scheut sich Pic auch nicht, ihren Gästen bittere oder grüne vegetabile Aromen «zuzumuten», die ihren Kreationen eine oft erstaunliche geschmackliche Tiefe verleihen und denen man in der französischen Spitzenküche sonst eher selten begegnet. Mit Süsse und Säure – zwei Sinneseindrücken, auf deren Spannungsbogen heute viele erfolgreiche Küchenchefs ganze Menüfolgen aufbauen, geht sie dagegen eher selektiv um, nutzt sie allenfalls, um Akzente zu setzen oder intensive Aromen, die einen Teller aus der Balance bringen könnten, einzuhegen.

Seit geraumer Zeit rückt Pic auch das Thema Food & Beverage Pairing stärker in den Fokus und hat zuletzt unter der Überschrift «Imprégnation Absolue» ein Menükonzept entwickelt, für das die Gerichte und eine nicht alkoholische Getränkebegleitung auf Basis hochwertiger Tees, Kombucha, Kräuterauszügen oder Kaffee gemeinsam entwickelt wurden, um so völlig neue, oft überraschende Aromen-Akkorde zu schaffen. Zum Beispiel bei filigranen, luftig gefüllten Teigtäschchen, serviert in einer duftenden Pilzessenz, abgerundet mit Tonkabohnen und japanischem Nikka-Whisky, die Pic zusammen mit einem temperierten äthiopischen Grand-Cru-Kaffee in einem bauchigen Zalto-Glas servieren lässt. Das Ergebnis auch hier: vollendete Harmonie durch Kontraste. Typisch Pic eben.
Kulinarischer Statthalter ihres zweifach besternten «Fine Dining»-Restaurants im mondänen «Beau-Rivage Palace» – 2009 erster internationaler Ableger des mittlerweile stetig wachsenden Pic-Imperiums – von dem wir durch grosse Fensteröffnungen eine atemberaubende Aussicht auf den Genfersee und die französischen Alpen geniessen, ist aktuell Kévin Vaubourg. Der überragt seine Chefin zwar um gut einen Kopf, begegnet ihr allerdings mit deutlich spürbarem Respekt. Denn «La Pic» ist anspruchsvoll. Dabei aber stets fair und voller Respekt für das, was ihre Küchencrew jeden Tag leistet. Schliesslich ist sie selbst durch eine harte Schule gegangen. Vor allem aber wird sie niemals laut. Im Gegenteil. Wenn es in der Küche hektisch wird, spricht sie noch leiser als gewöhnlich, ja beginnt zu flüstern und zwingt ihr Team so zu höchster Konzentration. Gleichzeitig erweist sich die Grande Dame der französischen Haute Cuisine als überaus warmherzige und authentische Gesprächspartnerin, die ihrem Gegenüber mit echtem Interesse begegnet und selbst nicht mit Komplimenten spart, wenn sie das Gefühl hat, man habe tatsächlich verstanden, worum es ihr bei ihren Kreationen eigentlich geht. Und diese Frau hat es schon lange nicht mehr nötig, irgendjemandem etwas vorzumachen.

Mit der Eröffnung ihres Schweizer Ablegers wollte Anne-Sophie Pic sich damals allerdings nicht einfach selbst kopieren – allenfalls was das Qualitätslevel angeht – sondern ein ganz neues kulinarisches Kapitel aufschlagen und dem Restaurant einen eigenständigen, tief in der Genfersee-Region verwurzelten Charakter verleihen. Deshalb hat sie über die Jahre Menüs entwickelt, die produktseitig eine immer deutlicher eidgenössische Handschrift tragen, so zum Beispiel bei ihren mit einer Moitié-Moitié-Fondue-Mischung gefüllten Berlingots, begleitet von grünen Zebratomaten, Eisenkraut und Brunnenkresse. Ein von Pic 2013 entwickeltes Signature-Gericht, zu dessen Trapez-Form sie ein Lieblingsbonbon ihrer Kindheit inspirierte und dem sie zu Hause in Valence Matcha-Tee, Bergamotte und Ingwer an die Seite stellt, während die Füllung auf Banon basiert, dem berühmten AOC-Ziegenkäse aus der Region Alpes-de-Haute-Provence – Heimat ihrer Mutter. Deshalb hat Anne-Sophie auch von Anfang an eng mit lokalen Topproduzenten zusammengearbeitet und sich mittlerweile ein ganzes Netzwerk an Partnerbetrieben aufgebaut, die das Restaurant beliefern. Dazu gehören zum Beispiel der Agrumen-Züchter Niels Rodin aus Borex oder die Boucherie d’Onex in Genf, die das Restaurant unter anderem mit Waadtländer Limousin Beef versorgt. Einmal im Jahr versammelt Pic in Zusammenarbeit mit der Initiative «Lausanne à table» ausserdem zahlreiche ihrer Lieferanten im Park des «Beau-Rivage Palace» zu einem öffentlichen Geniessermarkt, der ihren Kooperationspartnern nicht nur eine prominente Bühne bietet, um sich und ihre Produkte vor der prachtvollen Kulisse des 1861 eröffneten Hotelpalastes zu präsentieren, sondern wo immer wieder auch neue Ideen und Partnerschaften entstehen.

Einer dieser Partner ist der passionierte Wildkräuter- und Heilpflanzenexperte Michaël Berthoud (34) aus Blonay unweit von Vevey – wie Anne-Sophie ein Autodidakt, der Pic in die Geheimnisse der Wildkräuter und Heilpflanzen von den unberührten Wiesen und Wäldern im Hinterland des Genfersees eingeführt hat. Und da Madame Pic eine Frau der Tat ist, war sie mit Berthoud und Küchenchef Kévin Vaubourg natürlich auch schon persönlich auf Kräuterjagd. Für sein erstes, 2021 erschienenes Buch, in dem der Wildsammler 54 essbare Kräuter und Heilpflanzen der Westschweiz vorstellt, hat Pic ausserdem ein sehr persönliches Vorwort verfasst.
Wir treffen Berthoud an einem sonnigen Samstagmorgen unweit der Lausanner Metro-Endhaltestelle Croisette, von wo aus wir in nur gut zehn Autominuten einen weitgehend unberührten Abschnitt des Forêt de Jorat erreichen – Michaël zufolge ein perfektes Sammelrevier.
Während der Fahrt erzählt Michaël, wie die Leidenschaft für Wildpflanzen bei ihm mit 16 Jahren ganz unspektakulär mit ein paar Blättern Huflattich begonnen hat, mit denen ihn ein Pfadfinderfreund bei einem Freizeitlager nach einer kleinen Verletzung behandelt hatte. Nach einem Studium der Umweltwissenschaften beschloss er dann, seine Passion zum Beruf zu machen. 2016 ging sein Onlineportal «Cueilleurs-sauvages.ch» online, und heute bietet er für grosse und kleine Kräuterfans Führungen und Workshops an – oder arbeitet mit renommierten Küchenchefs wie Anne-Sophie Pic und Kévin Vaubourg zusammen.

Nachdem wir das Auto am Waldrand abgestellt haben, sind wir noch keine zehn Meter weit gekommen, als Michaël auch schon im Gebüsch verschwindet und mit den Blüten der «Reine des prés» in den Händen zurückkommt – dem echten Mädesüss. Die Blüten versprühen einen fast hypnotischen, süss-milchigen Duft nach Heliotrop oder Vanille. Michaël erzählt, dass die Pflanze sich deshalb perfekt zum Parfümieren von Desserts eigne und auch im Restaurant von Madame Pic zum Einsatz komme. «Gleichzeitig haben ihre Inhaltsstoffe auch schmerzlindernde, entzündungshemmende und fiebersenkende Eigenschaften, weil sie Aspirin-ähnliche Wirkung entfalten können», erklärt Michaël. Nur ein paar Meter weiter reckt sich, von zarten weissen Blüten gekrönt, wilder Baldrian in den Himmel, dessen Wurzeln Berthoud mit einer kleinen Schaufel im Handumdrehen ausgebuddelt hat. Sie verströmen den charakteristischen, leicht medizinalen Baldrian-Geruch, der nicht jedermanns Sache ist. In Vaubourgs Küche finden die zarten Wurzeln u.a. in einer Marinade für Entenfleisch Verwendung, weiss Michaël. Nur ein paar Schritte entfernt versteckt sich im Unterholz dann auch schon der nächste Schatz: Wilde Angelika, deren aromatisch-bittere Wurzeln sich gut für den Ansatz von alkoholischen Auszügen, aber auch eine würzige Angelika-Milch eignen und deren Bitterstoffe nebenbei noch die Verdauung in Schwung bringen. Und so geht es Schlag auf Schlag. Egal ob Kletten, deren intensives Aroma ihrer Früchte und Samen etwas an Gewürznelken erinnert, Bärenklau, dessen gedünstete Stiele nach Sellerie und Kokos schmecken, während die scharfen, Gerbstoff-reichen kleinen Früchte einem fast die Zunge betäuben, oder Wald-Ziest, dessen Blätter, wenn man sie einige Sekunden zwischen den Fingern zerreibt, herrlich nach frischen Steinpilzen duften. Aus denen macht Michaël zu Hause gerne ein Pesto, das er zu Ziegenkäse empfiehlt. Und plötzlich beginnt man den Wald mit ganz anderen Augen zu sehen, verwandelt sich das vermeintliche Unkraut am Wegesrand in eine kulinarische Schatzkammer.
Zu Anne-Sophies Lieblingszutaten gehören neben Mädesüss, Bärenklau und Steinklee übrigens auch frische Tannentriebe. «Am aromatischsten sind die von der Weisstanne, vor allem aber der Douglasie, die einen fast ätherischen Geruch nach Orangen- und Mandarinenschalen verströmen, wenn man sie zerdrückt», erklärt Michaël, der uns mitten im Wald eine selbst angesetzte Tannenlimonade serviert. «Man kann die Nadeln aber auch trocknen und in einer elektrischen Kaffeemühle fein zermahlen. Mit diesem Pulver kann man zum Beispiel Gemüsegerichte abschmecken», empfiehlt Michaël. Nach gut zwei Stunden kehren wir schliesslich mit einem prall gefüllten Beutel voller Wildkräuter und Heilpflanzen zum Auto zurück. Mal sehen, was wir zu Hause daraus zaubern werden. Vielleicht können wir Madame Pic das nächste Mal einen Tipp geben.
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