Kleiner Tempo Macher
- 10. Juli 2012
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Der KTM X-Bow ist ein reinrassiges Rennfahrzeug für die Strasse. Doch wie fährt es sich über lange Strecken? PRESTIGE fuhr mit dem Exoten ans 24-Stunden-Rennen von Spa Francorchamps. Kennen Sie Kronreif und Trunkenpolz aus Mattighofen? Wahrscheinlich eher nicht. Aber schon viel eher kennen Sie KTM. Die machen doch Motocross-Motorräder, welche durch ihre unverwechselbare orange-schwarze Lackierung Kultstatus erlangt haben. Genau diese österreichische Marke stellte vor vier Jahren am Genfer Autosalon ein Fahrzeug der anderen Art vor. Der X-Bow, sprich Crossbow, zu Deutsch Armbrust, verblüffte die Besucher und fand derart viele Interessenten, dass er im Sommer 2008 gebaut wurde. Das Chassis, welches komplett aus Kohlefaser ist, wird beim italienischen Formel-Fahrzeug-Hersteller Dallara gebaut. Den Vierzylinder-Zweiliter-Turbo-Motor liefert Audi, und zusammengebaut wird das Ganze in Graz. So viel zur Geschichte. Nun zur Gegenwart. Zusammen mit Ex-Formel-1-Powerboat-Pilot und Motorradjournalist Emanuel Elsa hole ich das Fahrzeug bei KTM Schweiz ab. Schon vor dem Gebäude bekommen wir einen ersten Vorgeschmack auf das, was uns bevorstehen wird. Staunende Menschen.
Wie aus dem Nichts stehen auf einmal Männer, Frauen und Kinder um den X-Bow. Nachdem alle Zuschauerfragen beantwortet sind, gehts auf die 600 Kilometer lange Reise nach Belgien. Beim ersten Stopp an der Tankstelle schaffen wir es fast nicht mehr weg. Nein, an der Maschine ist alles in Ordnung. Aber diese Menschen! Sie fragen uns Löcher in den Bauch. «Wie schnell fährt der? Was kostet der? Ist das ein Prototyp? Hat der kein Dach?» Dies sind die Top Ten der am häufigsten gestellten Fragen. Und natürlich wird das Auto von jeder verfügbaren Digitalkamera und Handys geknipst. Auch während dem Fahren werden wir ständig aus vorbeifahrenden Autos fotografiert. Dabei sehen die Fotografen nicht mal unsere lächelnden Gesichter, denn die sind hinter einem Helm versteckt. Der X-Bow hat nicht nur kein Dach, sondern auch keine Windschutzscheibe. So wird schon Oben-ohne-Fahren mit 50 km/h zur Tortur und Autobahntempi wären nicht nur illegal, sondern ohne Kopfschutz schlicht unmöglich. Neben dem Gesicht sollten auch die Ohren gut geschützt werden. Sogar mit meinem aerodynamisch ausgefeilten, Formel-1-tauglichen Helm ist die Geräuschkulisse von Wind und Motor infernalisch.
Fahreindrücke
Eines wird schnell klar. Langsam fahren ist nicht dem X-Bow sein Ding. Dann quietschen die Uniball-Gelenke der Pushrod-Dämpfer, die servolose Lenkung ist schwerfällig und die Brembo-Rennbremsanlage pfeift, dass noch mehr Passanten auf den herannahenden Strassenrenner aufmerksam werden. Kaum gehts ausserorts auf eine Landstrasse, kommt der kleine Flitzer in sein Element. Die straffen Dämpfer arbeiten wunderbar und geben ein absolut unverfälschtes Feedback an den Fahrer. Die Lenkung ist ultrapräzise. Am Anfang ertappt sich der Fahrer immer wieder mit zu starken Lenkbewegungen. Jeder Millimeter am Steuerrad wird gleich in Richtungsänderung umgesetzt. Das Chassis ist natürlich bocksteif und so kommt tatsächlich sehr schnell ein Gefühl auf wie in einem Rennfahrzeug.
Während einige Autohersteller bei ihren sportlichen Kleinwagen immer wieder den abgelutschten Begriff Go-Kart-Feeling in den Mund nehmen, ist er hier tatsächlich angebracht. Weniger als 800 Kilogramm Gewicht bedeuten Vollgas in Kurven, wo Porsches und Ferraris schon längst den Anker werfen müssen. Dabei verträgt der KTM derart hohe Fliehkräfte, dass Muskelkater in den Hals- und Nackenmuskeln garantiert ist. Auf der deutschen Autobahn kommt dann richtig Freude auf. Nicht dort, wo es lange geradeaus geht. Langgezogene Kurven können derart schnell durchfahren werden, dass es am Anfang einiges an Überwindung kostet. Der angegebene Topspeed des Autos liegt bei 220 km/h. Das ist nicht sonderlich beeindruckend. Aber mit über 200 Sachen fahre ich durch Bögen, welche bei solchen Tempi immer enger werden. Der Carbon-Unterboden saugt sich wie ein Staubsauger an den Asphalt. Jetzt sitzen wir tatsächlich in einem strassenzugelassenen Formel-Fahrzeug!
Keine Unruhe, wie auf Schienen schiesst der X-Box zum nächsten Eck. Spätestens hier bekommen KTM-Besitzer einen Adrenalin-Rausch, welcher eine extrem hohe Suchtgefahr mit sich bringt. Wer süchtig nach Aufmerksamkeit ist, findet in diesem Fahrzeug ebenfalls das ideale Instrument. Als wir in Spa Francorchamps durch die Boxengasse fahren, denken die Leute, dass wir die Einfahrt zur Rennstrecke verpasst haben. Das verwundert auch nicht. Mit wenigen Änderungen an Überrollbügel, Seitenaufprallschutz und Renntank ist das Fahrzeug homologiert für die GT4 Rennklasse. Die Sehnsucht, die berühmt-berüchtigte Eau Rouge und die Vollgas-Blanchimont mit dem X-Bow kennenzulernen, verlässt uns das ganze Wochenende nicht. Auch auf der Nachhausefahrt durchs nasskalte Ardennenwetter bleibt der Wunsch, mit diesem Fahrzeug auf die Rennstrecke zu gehen. Dafür wurde der Crossbow gebaut. Dass man gleich ohne Zugfahrzeug und Anhänger dorthin reisen kann, ist praktisch. Nur ein Problem bleibt. Es gibt nicht nur wenig Platz für Gepäck, sondern gar keinen. Aber wir Schweizer haben ja eine wunderschöne Alternative zur Rennstrecke: Alpenpässe! Also ganz früh aufstehen, ein paar Pässe machen und vor der Invasion von Wohnwagen-Touristen schon wieder zuhause sein.
P.S. X-Bow-Besitzer sind übrigens ganz einfach daran auszumachen, dass sie im Restaurant neben dem Autoschlüssel ein ganzes Lenkrad auf dem Tisch liegen haben. So funktioniert der Diebstahlschutz à la KTM.