
Im Wandel der Zeit
- 19. Oktober 2017
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1192 Inseln, aufgereiht wie die funkelnden Perlen eines Colliers drapiert auf einem türkisblau und smaragdgrün schimmernden Stück Seide – so präsentieren sich die Malediven aus der Vogelperspektive. Ein verlorenes Paradies, um das sich bereits in der Antike Mythen und Legenden rankten, heute Sehnsuchtsort zivilisationsmüder Luxusurlauber und gleichzeitig einer der am dichtesten besiedelten Flecken der Erde.
Als unsere Maschine nach einer langgezogenen Linkskurve auf die Landebahn des Velana International Airport einschwenkt, sind manche Passagiere sichtlich irritiert. Wie passt das Bild der unter dem Rumpf vorbeiziehenden Inselhauptstadt Malé, die sich wie ein Krebsgeschwür bis zum äussersten Rand des gleichnamigen Koralleneilands gefressen hat, zur erhofften Postkartenidylle menschenleerer Traumstrände? Ja, fast scheint die winzige Insel unter der Last der in Bonbonfarben und Pastelltöne gehüllten Bankentürme und Verwaltungsgebäude im Meer versinken zu wollen – die Rückseite der Fototapete. An keinem anderen Ort dieses tropischen Inselparadieses prallen Anspruch und Wirklichkeit, Tradition und Moderne wohl heftiger aufeinander.
Ein Italiener erfindet den Malediventourismus
Ein Drittel der aktuell circa 400ʼ000 Malediver lebt hier dicht gedrängt im geografischen Zentrum der insgesamt 26 Atolle auf ein paar Sandbänken, die kaum einen Meter aus den Fluten ragen. Vor den unerbittlich anrollenden Wogen nur von ein paar Dämmen und einem zunehmend maroden Aussenriff geschützt. Der Rest der Einheimischen verteilt sich auf rund 200 weitere Eilande, manche nicht viel grösser als ein Fussballplatz. Daneben gibt es aktuell knapp 120 an ausländische Investoren verpachtete Tourist Islands, deren Hochglanzfotos unser Maledivenbild prägen und jährlich Ziel von rund 1,4 Millionen Urlaubern sind. Die restlichen 900 Inseln sind unbewohnt oder von Kokos- und Gemüseplantagen bedeckt, werden teilweise aber auch industriell genutzt. Malé-City selbst, gerade mal knapp zwei Quadratkilometer gross, ist heute die am dichtesten besiedelte Hauptstadt der Welt. Trotzdem wächst die Bevölkerung unaufhaltsam weiter. Auch das ist vor allem eine Folge des ungebremsten Tourismusbooms. Allen Debatten über den Klimawandel und seine Folgen zum Trotz.
Erfunden hat den Malediventourismus vor 45 Jahren der italienische Reiseagent Giorgio Corbin. Den verschlug es auf der Suche nach unentdeckten Hotspots für Taucher und Sportfischer 1971 allerdings eher durch Zufall auf die Inseln, nachdem er in Sri Lankas Hauptstadt Colombo den jungen Diplomaten Ahmed Naseem kennengelernt hatte, der Corbin von der unberührten Schönheit seiner Inselheimat vorschwärmte. Also bestieg Corbin gemeinsam mit Naseem das nächste Frachtschiff Richtung Malé. Damals gab es auf der Insel Strom nur stundenweise, weder Telefone noch Banken, ja nicht mal einen Polizisten. Nur zwei Taxen, die über unbefestigte Wege holperten, die von Palmen beschatteten Hütten gesäumt wurden, deren Korallenwände in der Sonne funkelten. Die Menschen lebten vom Bootsbau, Fischfang und dem Handel mit Kopra und Trockenfisch. Begeistert beschloss Corbin, mit einer Testgruppe zurückzukehren. Das einzige Problem: Es gab kein Hotel. So wurde auf dem in Sichtweite von Malé gelegenen Eiland Vihamanafushi ein Ferienresort improvisiert – Kurumba Village. Freilich ohne all jene Annehmlichkeiten, die heute selbstverständlich sind. Denn in den Palmwedel-gedeckten Hütten gab es weder Klimaanlagen noch Türen. Auf dem Speisezettel stand nicht viel mehr als gegrillter Fisch. Bereits im Oktober 1972 reisten dann die ersten «echten» Pauschalurlauber an – in einer gecharterten Militärmaschine der sri-lankischen Luftwaffe.
Vom Backpacker-Paradies zur Luxusdestination
Waren die Inseln zunächst ein beliebtes Ziel von Backpackern, die hier Ende der 70er Jahre für fünf Dollar am Tag in einfachen Strand-Bungalows wohnten, verwandelten sich die Malediven ab Mitte der 80er Jahre zunehmend in eine Luxusdestination. Das lag nicht zuletzt daran, dass der damalige Machthaber Maumoon Abdul Gayoom 1984 entschied, dass westliche Besucher nur noch auf ausgewählten Touristeninseln übernachten durften. Die Local Islands waren fortan bis auf wenige Ausnahmen tabu. Dadurch sollte die muslimische Bevölkerung vor schädlichen Einflüssen aus dem Westen geschützt werden – so zumindest die offizielle Lesart.
Schnell wurden die ersten Traumstrände dann meistbietend an internationale Hotelkonzerne verpachtet, die die enormen Summen, die dafür fällig wurden, nur durch hochpreisige Luxusherbergen erwirtschaften konnten. Grundlage des bis heute den Inseltourismus prägenden «One Island One Resort»-Prinzips. In dieses Schema passt auch unser Reiseziel Gili Lankanfushi, das von Malé und der Flughafeninsel Hulhule nur 20 Minuten per Speedboot entfernt liegt. Mit seinen 45 luxuriösen Over Water Villas gilt es aktuell als eines der exklusivsten Eco-Resorts der Welt.
Erst 2008/2009 wurde die strikte Trennung zwischen Einheimischen und Touristen unter Präsident Mohamed Nasheed dann schliesslich weitgehend aufgehoben. Seither sind auf rund 90 der Local Islands Privatunterkünfte entstanden – vom einfachen Gästezimmer mit Familienanschluss bis zum Vier-Sterne-Hotel. Das Interesse der Hotelindustrie an solchen Angeboten hält sich allerdings in Grenzen, denn auf den Local Islands herrscht striktes Alkoholverbot. Deshalb betreiben findige Unternehmer mittlerweile Barschiffe, auf denen die Touristen ihre Drinks geniessen können.
Schmelztiegel der Kulturen
Zwar ist der sunnitische Islam bereits seit dem Jahr 1153 offizielle Staatsreligion der Malediven, aber die Inseln waren schon immer ein Schmelztiegel der Kulturen. So brachten die ersten Siedler, die vermutlich aus Sri Lanka kamen, zunächst den Buddhismus ins Land. Das beweisen zahlreiche Funde auf den Südatollen. Später waren die Malediven, aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage entlang bedeutender Handelsrouten, dann regelmässig Ziel von Kaufleuten aus Persien und Arabien. Aber auch Handelsflotten aus China, Malaysia und Indonesien lagen hier immer wieder vor Anker. Schliesslich spielten im 16. Jahrhundert die Portugiesen mit ihrem vergeblichen Versuch einer Christianisierung der Inseln eine kurze und eher unrühmliche Rolle, zuletzt die Engländer, die bis in die 70er Jahre im Addu-Atoll eine Militärbasis unterhielten.
Wer ein wenig mehr über den maledivischen Alltag erfahren will, sollte trotz drangvoller Enge einen Besuch Malés nicht scheuen. Nur wer selbst die Erleichterung verspürt, im Sultan Park, der einzig verbliebenen grösseren Grünfläche der Insel, im Schatten mächtiger Banyantrees durchzuatmen, nachdem man zuvor ziellos durch das unübersichtliche Strassengewirr der Hauptstadt geirrt ist, versteht, was die Menschen hier tatsächlich bewegt. Da zahlreiche Malediver neben der Landessprache «Dhivehi» auch Englisch beherrschen, kommen Besucher mit den Einheimischen ohnehin schnell ins Gespräch. Aber auch ein Wort des komplizierten Inselidioms hat international Karriere gemacht – Atoll leitet sich vom maledivischen Begriff «Atholhu» ab.
Besuch der Einheimischen-Inseln
Neben Malé lohnt aber auch eine Visite auf einer der anderen Einheimischen-Inseln, zum Beispiel Huraa. Zwar knattern auch dort ein paar Mopeds durch die Strassen. Trotzdem geht es hier im Vergleich zur Inselkapitale fast schon idyllisch zu, und das Gespräch mit «Locals» ergibt sich ebenfalls fast wie von selbst. Auf Huraa kann man aber auch die typische Inselküche probieren – doch Vorsicht: Maledivische Spezialitäten sind oft höllisch scharf. Kaum ein Gericht kommt ausserdem ohne Thunfisch aus. Weitere typische Zutaten sind frisch geraspelte Kokosnuss und jede Menge Zwiebeln, Chili, Curry und Limettensaft. Dazu gibt es importierten Reis und Brotfrüchte, Taro oder Süsskartoffeln. Das passende Getränk: frisches Kokoswasser.
Zurück auf Gili wird uns das Privileg, das man als Tourist auf den Malediven geniesst, dann umso bewusster. Schon beim Anlegen am Jetty erwartet uns Mr. Friday – so heissen auf Gili in Anlehnung an den Gefährten Robinson Crusoes die Personal Butler – mit einem kühlen Tuch und einem erfrischenden Getränk. Man muss dann eigentlich nur noch entscheiden, ob einem der Sinn heute eher nach Sushi oder Spaghetti steht, bevor man nach einem Bad in der türkisblauen Lagune im «Jungle Cinema» einen Filmklassiker geniesst … Traum und Wirklichkeit.
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