
Im Venice Simplon-Orient-Express von Florenz nach Paris
Thomas Hauer, Foto: VSOE
- 8. April 2022
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«In Nerz gekleidete Geheimagentinnen, Herren mit Monokel und Bärtchen, undefinierbare Häuptlinge irgendwelcher Volksstämme, bildschöne Frauen, von denen niemand weiss, wovon sie eigentlich leben, königliche Hoheiten auf der Flucht und indische Maharadschas». Mit diesen Worten beschrieb der Redakteur des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» im April 1948 unter der Überschrift «Tanz im Orient Express» die Passagiere des bis heute wohl berühmtesten Zuges der Eisenbahngeschichte. Und das war keine Übertreibung.
Ob Lawrence von Arabien, Mata Hari, Leo Trotzki, Josephine Baker, Fürstin Gracia Patricia, der Aga Khan und unzählige weitere Granden aus Politik, Hochadel oder Gesellschaft, ja selbst fiktive Charaktere wie Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot oder Ian Flemings James Bond – sie alle reisten im Orient-Express. Tatsächlich avancierte der 1883 in Dienst gestellte Luxuszug binnen weniger Jahre nicht nur zu einer der wichtigsten Verkehrsachsen, sondern auch zum kulturellen Bindeglied zwischen Orient und Okzident, bis die letzte fahrplanmässige Direktverbindung Paris–Istanbul mit dem Heraufziehen des Jet-Zeitalters im Mai 1977 schliesslich auf dem Abstellgleis landete. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich der «Direct-Orient», glanzloser Nachfolger des einst mondänsten Fortbewegungsmittels seiner Zeit, längst in einen notorisch verspäteten Anachronismus verwandelt und stand nur noch bei Drogenschmugglern oder Gastarbeitern auf Heimaturlaub hoch im Kurs. Dass eine Reise von den Ufern der Seine an den Bosporus Ende des 19. Jahrhunderts noch ein echtes Abenteuer gewesen sein muss, belegt die unverblümte Bitte der Compagnie Internationale des Wagons-Lits an die 24 geladenen Gäste der Jungfernfahrt, sie sollten – nur für alle Fälle, versteht sich – eine Schusswaffe mit sich führen. Auf dem Balkan und im Orient wisse man ja schliesslich nie so genau. Und auch wenn die 3100 Kilometer am Ende ohne nennenswerte Zwischenfälle verliefen, war eine Zugreise in den «wilden Osten» damals tatsächlich nicht ohne Risiko. So brachte zum Beispiel der griechische Hasardeur Athanasios den Orient-Express 1891 unweit von Konstantinopel zum Entgleisen und nahm gleich mehrere Passagiere als Geiseln. Wir dagegen können den Trommel-Revolver wohl getrost zu Hause lassen, schliesslich ist der Ausgangspunkt unserer Reise im Venice Simplon-Orient-Express (VSOE) die moderne Stazione di Santa Maria Novella am Rande der Altstadt von Florenz und endet bereits am nächsten Tag im Pariser Gare de l’Est. Die grösste Gefahr, die uns dabei droht, dürfte daher ein spontaner Streik des Schienenpersonals in Italien oder Frankreich sein.

Eine Fahrt durch die Zeit
Für die rund 1100 Schienenkilometer braucht der seit 1982 von der Belmond Ltd. privat betriebene Nachfolger des historischen Simplon-Orient-Express, der – selbst bereits ein Spinn-off des Originals – zwischen 1920 und 1962 die Strecke Paris–Venedig–Istanbul bediente, mit rund 18 Stunden fast doppelt so lange wie die regulären Kurswagen von Trenitalia und SNCF. Dafür knüpft der VSOE, im Gegensatz zur staatlichen Konkurrenz, nahtlos an den morbiden Glanz der Expresszüge des Fin de Siècle und des frühen 20. Jahrhunderts an. Schliesslich handelt es sich bei den in Gold und Blau lackierten Waggons um historische Originale, die bereits viele Jahre als Teil von Zuglegenden wie dem «Train Bleu» oder dem «Rome Express» unterwegs waren, bevor sie bei privaten Sammlern in der Scheune oder dem Vorgarten landeten. Wachgeküsst aus ihrem Dornröschenschlaf hat sie dann der amerikanische Geschäftsmann James B. Sherwood, der Ende der 1970er Jahre in halb Europa nach geeignetem Rollmaterial suchen liess, um die Zuglegende zurück auf die Schiene zu bringen. Einzig die in den frühen 2000er Jahren erneuerten Drehgestelle, die heute Spitzengeschwindigkeiten von rund 160 Kilometer pro Stunde erlauben, sowie moderne Klimaanlagen sind ein Zugeständnis an die Moderne. Geheizt wird dagegen noch mit Kohleöfen. Aktuell besteht die Zuggarnitur des VSOE aus 17 Waggons der Baujahre 1926 bis 1931, darunter 13 Schlaf-, drei Speise- und ein Barwagen: rund 500 Meter aus der Zeit gefallene Eisenbahngeschichte.

Heute führt die klassische Route von London – die Strecke von der Victoria Station bis zur Kanalküste wird allerdings von British Pullman bedient – über Paris nach Venedig oder umgekehrt, jeweils inklusive einer Übernachtung an Bord. Einmal im Jahr wird aber auch die historische Stammstrecke Paris–Istanbul angeboten. Damit Gäste seines rollenden Palastes dabei auch am Start- beziehungsweise Zielbahnhof standesgemäss residieren konnten, hatte Sherwood unter anderem das legendäre «Cipriani» in Venedig erworben. Mittlerweile fährt der VSOE aber auch Städte wie Berlin, Amsterdam, Brüssel, Prag, Wien, Budapest oder, ganz neu, Florenz an, und diverse Teilstrecken lassen sich untereinander auf Wunsch zu mehrtägigen Schienenabenteuern kombinieren. Sofern die Reisekasse das zulässt jedenfalls. Schliesslich ist eine Fahrt im VSOE in etwa so teuer wie ein First-Class-Flugticket. Doch wer auf diese Weise reist, dem geht es ohnehin nicht darum, von A nach B zu kommen, der reist schlicht um des Reisens willen. Geschlafen wird an Bord, abgesehen von sechs geräumigen, aber astronomisch teuren Grand Suites mit separatem Wohn- und Schlafbereich sowie eigenem Marmorbad, in winzigen, jedoch höchst luxuriös im Art-déco-Stil ausstaffierten Abteilen, die ein livrierter Kabinensteward am Abend im Handumdrehen in ein gemütliches Schlafgemach verwandelt – Damastbettwäsche inklusive, versteht sich. Ein rollendes Grand Hotel en miniature. Wie im historischen Vorbild gibt es in den Standard-Abteilen des VSOE allerdings nur fliessend Wasser, Toiletten dagegen nur am Ende des jeweiligen Schlafwagens – zu Zeiten der Jungfernfahrt war das allerdings bereits ein unerhörter Luxus. Ja, manche Herren sollen es sich vor lauter Begeisterung über dieses Mass an Komfort damals mit ihrer Havanna auf dem stillen Örtchen gemütlich gemacht haben – trotz eines ebenfalls mitrollenden Rauchsalons – sodass sich anfangs lange Schlangen bildeten. Höhepunkt der Reise aber sind auch heute noch die glanzvollen Dinners, zu denen die Passagiere sich in elegante Abendgarderobe hüllen und die in Speisewagen kredenzt werden, die so illustre Namen tragen wie Étoile du Nord, Côte d’Azur oder L’Oriental. Aufwendig dekoriert mit Intarsien- und Lackarbeiten oder Kristallelementen von René Lalique versetzen sie die Gäste im Handumdrehen in eine längst vergangene Epoche. Zwar gibt es statt der früher üblichen Zehn-Gänge-Menüs, die sich über drei bis vier Stunden hinzogen, heute nur noch ein recht flott serviertes Vier-Gänge-Abendessen – das bei voller Belegung des Zuges mit 160 Passagieren in zwei Sitzungen serviert wird –, aber das ist immerhin von erlesener Qualität.
Bon voyage
Bevor es endlich losgeht, verbringen wir noch eine Nacht in den grünen Hügeln von Fiesole, oberhalb des in der Sommerhitze brodelnden Stadtzentrums von Florenz, bis es am nächsten Tag endlich Zeit wird, an Bord des VSOE zu gehen, der pünktlich um 17.30 Uhr auf Gleis 9 der Stazione di Santa Maria Novella einläuft. Auf der elektronischen Anzeigetafel wird die Schienenlegende allerdings nicht etwa standesgemäss als Venice Simplon-Orient-Express, sondern unter der schnöden Bezeichnung E1374 mit Ziel Domodossola angekündigt – letzter italienischer Bahnhof vor der Schweizer Grenze. Understatement pur. Voller Enthusiasmus schweben wir dann beinahe über den Bahnsteig und weiter in unser pompös ausstaffiertes Mini-Abteil. Das liegt im Wagen 3473. In dem in der Kabine bereitliegenden Leporello kann man nachlesen, dass «unser» Waggon bereits seit 1929 über Europas Schienennetz rollt und unter anderem lange Jahre als Teil des «Nord Express» zwischen Paris und Moskau im Einsatz war, bevor er zuletzt als Teil des Simplon-Orient-Express genutzt wurde, also dem historischen Vorbild des VSOE. Doch viel Gelegenheit, das plüschige Ambiente oder den Welcome-Champagner zu geniessen, den Kabinensteward Marius uns in einem extraschweren Kristallglas serviert, gibt es vorläufig nicht, denn es ist mittlerweile schon höchste Zeit für den Pre-Dinner Cocktail im Barwagen. Vorher müssen wir uns auf gefühlt einem Quadratmeter aber erst mal in schwarzen Abendzwirn winden, ohne dabei die Gliedmassen zu verrenken. Doch alle Mühen sind schnell vergessen, als wir zu Live-Pianomusik an einem exzellent gemixten «Guilty 12» nippen – eine Cocktailkreation von VSOE-Bar-Chef Walter Nisi – und dabei einen ersten Blick auf die Mitreisenden erhaschen. Ob sich darunter auch leibhaftige Spione, geheime Mätressen, internationale Politikgrössen oder millionenschwere Wirtschaftskapitäne verbergen? Auf jeden Fall liegt Magie in der Luft. Beim anschliessenden Abendessen, das wir stilecht im Étoile du Nord, Jahrgang 1926, einnehmen und bei dem unter anderem perfekt auf den Punkt gebratener Wolfsbarsch mit Bottarga und Artischocken-Coulis serviert wird, teilen wir uns dann einen Tisch mit Zug-Veteran und VSOE General Manager Pascal Deyrolle und üben uns – dem Umfeld angemessen – in gehobener Dinnerkonversation mit dem Franzosen. Gegen 22.30 Uhr ziehen sich die meisten Gäste dann bereits in ihre Kabinen zurück. Dort liegen für die Passagiere diverse Präsente auf dem Kopfkissen parat. Neben einer Designerschlafmaske von Ruffini, einem luftigen Kimono sowie mit dem verschnörkelten VSOE-Logo bestickten Samtpantoffeln für nächtliche Ausflüge Richtung WC liegt ausserdem eine gebundene Ausgabe von F. Scott Fitzgeralds Kurzgeschichtensammlung «Flappers and Philosophers» bereit. Genau die richtige Lektüre also, um ein Gefühl für den Vibe der wilden 20er und des Jazz-Age zu bekommen. Nach einer kurzen, aber ruhigen Nacht, in der das gleichmässige Rattern der Schwellen uns sanft in den Schlaf wiegt, wird das kontinentale Frühstück mit knusprigen Croissants und frisch aufgebrühtem Kaffee am nächsten Morgen dann etwa auf Höhe von Basel serviert. Allerdings nicht im Speisewagen, sondern in unserer von Marius routiniert zum Sitzabteil zurückverwandelten Kabine. Die verbleibende Zeit bis zum Eintreffen des Zuges im Pariser Gare de l’Est gegen Mittag vergeht zwischen Lektüre und einem kleinen Aperitif dann fast wie im Flug. Für grosse Abschiedsszenen bleibt dem 41-köpfigen Zugteam am Bahnsteig ohnehin kaum Zeit.In ein paar Stunden wird der VSOE mit neuen Gästen an Bord nämlich schon wieder Richtung Innsbruck und Verona aufbrechen, und bis dahin gibt es noch jede Menge zu tun. So umfahren wir mit unseren Koffern auf dem Weg Richtung Ausgang auf Höhe der Kombüse schon die ersten Lasten-Buggys, von denen die Küchencrew gerade kistenweise frische Hummer übernimmt. Fünf Minuten später sitzen wir dann schon, zurück in der Realität, im Fond einer S-Klasse-Limousine, die sich durch den dichten Pariser Berufsverkehr quält. Bevor wir am nächsten Morgen im unterkühlten Ambiente des TGV zurück in die Schweiz reisen, wollen wir uns zum Abschluss in Paris noch eine Nacht in einer Hotellegende gönnen – Sternedinner inklusive. Bei konfiertem Lauch mit Kapern-Vinaigrette und wachsweichen Eiern, fein farcierter Krabbe mit Radieschen-Blüten und Gelée oder Coquillettes Parisienne, eine cremige Pasta mit Schinken und reichlich schwarzem Trüffel, lassen wir es uns dann noch einmal richtig gut gehen. Wir sind sicher: Auch Hercule Poirot wäre begeistert gewesen. Bon voyage!
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