
Im grossen Bogen durch West-Texas
- 19. April 2019
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Amerika war schon immer ein Sehnsuchtsort. In seinen unendlichen Weiten verloren sich Siedler, Goldgräber, Missionare und Abenteurer. Und selbst heute findet man noch Gegenden, die diese besondere Magie ausstrahlen — zum Beispiel dort, wo der Wilde Westen eine grosse Schleife schlägt.
Es gibt bestimmte Orte, die selbst bei Reisemuffeln so etwas wie Fernweh und Abenteuerlust aufkommen lassen. Bei den Flüssen sind es lange Ströme wie der Amazonas und der Rio Grande, die Reisefieber auslösen. Kaum einen anderen Fluss verbindet man so sehr mit dem Wilden Westen wie den letzteren. Rund zwei Drittel der insgesamt über 3000 Kilometer schlängeln sich durch den US-Bundesstaat Texas und bilden eine natürliche Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Ein Grossteil des Stroms befindet sich im Big Bend Nationalpark und kann per Boot oder Pferd erkundet werden.
Wüstenlandschaft mit vielfältiger Flora und Fauna
Obwohl der Park mit seinen 3242 Quadratkilometern zu den grössten der USA zählt, kommen mit rund 440’000 Besuchern jährlich nicht allzu viele Touristen in diese Ecke des Landes. Dabei beherbergt das UNESCO-Biosphärenreservat nicht nur weite Teile der Chihuahua-Wüste, einer Regenschattenwüste, welche mit einer Fläche von rund 453’000 Quadratkilometern sogar als grösste aller nordamerikanischen Wüsten gilt, sondern auch das Zentralmassiv der Chisos Mountains und ihre mit steigender Höhe immer grüner
werdenden Hänge. Mit jedem Höhenmeter verändert sich die Vegetation: von Kakteen, niedrigen Pinien über Wacholderbüsche bis hin zu dicht gewachsenen Eichen und Kiefern. «Wer sich eine Landschaft wie in der Sahara vorstellt, wird von der Vielfalt der angesiedelten Flora überrascht sein», berichtet Robert Alvarez, Repräsentant des Brewster County Tourism Council. Nach einem ausgedehnten Frühjahrsregen blühen sogar ganze Teppiche von Wildblumen. Und mittendrin schlängelt sich ein 250 Kilometer langes Netz aus Wanderwegen.
Nachthimmel über dem Lone Star State
Passend zu seinem Beinamen «Staat des einsamen Sterns» ist Texas und ganz besonders der Big Bend Nationalpark ein einzigartiger Ort, um in die Sterne zu blicken. Wer nach einer langen Tour durch die Chihuahua-Wüste im Zelt übernachtet und nachts in den Himmel schaut, der weiss, wieso der Nationalpark 2012 zum «Dark Sky Park» (dt. Lichtschutzgebiet) ernannt wurde. Weit und breit ein funkelndes Himmelszelt, von Lichtverschmutzung keine Spur. «Das liegt daran, dass nur wenige Menschen den Weg in diese verlassene Gegend einschlagen», erklärt Alvarez. Unabsichtlich lande hier niemand. Die nächste Grossstadt ist Dallas und fast acht Autostunden entfernt.
Mit dem Ruderboot nach Mexico
Gerade wegen seiner Abgeschiedenheit ist der Big-Bend-Nationalpark ein ganz besonderer Schauplatz. Zudem beheimatet er den wohl ungewöhnlichsten Grenzübergang der USA: Nur fünf Ruderzüge über den Rio Grande entfernt liegt Mexiko. Der Grenzfluss ist hier so schmal und flach, dass man ihn durchwaten könnte. Einen Zaun, Patrouillen der US Homeland Security oder lange Warteschlangen bei der Passkontrolle gibt es nicht. Stattdessen werfen zwei nette Park Ranger einen kurzen Blick in die Papiere, bevor sie die Weiterreise mit dem Ruderboot – scherzhaft «International Ferry Service» genannt – gewähren. Am mexikanischen Ufer angekommen, kassiert der Bootsführer Juan Pérez fünf Dollar und händigt im Gegenzug ein winziges Ticket für die Rückfahrt aus. Von dort ist das nächstgelegene Dorf Boquillas del Carmen nur noch einen zehnminütigen Eselritt entfernt. An ärmliche Lehmhäuser reihen sich eine kleine Medizinstation, eine Schule, eine einzige Telefonzentrale und zwei Restaurants. Strom haben die Dorfbewohner seit 2015, berichtet Bootsführer Pérez stolz, während eine mexikanische Grenzbeamtin gleichzeitig Ein- und Ausreise abstempelt: «damit Sie nicht noch mal vorbeikommen müssen.»
Nirgendwo sonst ist der Grenzübertritt zwischen den USA und Mexiko so unkompliziert wie im Big-Bend-Nationalpark. Wer will, gelangt hier mühelos über die Grenze. Von illegaler Einwanderung, Drogen- und Waffenschmuggel ist dennoch keine Spur. «Es gibt schlichtweg keine Infrastruktur, keine Strassen oder Umschlagplätze, die man für illegale Geschäfte im grossen Stil benötigen würde», erklärt Pérez. Der nächste Ort ist mehr als 150 Kilometer entfernt und zu Fuss kaum erreichbar. Schon spanische Entdecker, welche die Region im
16. Jahrhundert nach Bodenschätzen absuchten, gaben bald auf und tauften sie «El Despoblado», das unbewohnte Land. Ganz dem Klischee eines typischen Westernfilms entsprechend rollt ab und zu ein «Tumbleweed» aus vertrockneten Pflanzen über die weite Steppe.
Geisterstadt mit Weltruhm
Ähnlich ruhig und gelassen geht es auch in Terlingua etwas ausserhalb des Nationalparks zu. In den 1920ern lieferte das blühende Bergbaustädtchen noch 40 Prozent der nationalen Quecksilbererträge, doch nachdem die Minen geschlossen wurden, wurde Terlingua zur Geisterstadt. Erst in den Sechzigern besiedelten Hippies, Künstler und abenteuerlustige Aussteiger die Gegend und hauchten ihr neues Leben ein. Am Abend trifft man sich im urigen Starlight Theatre, einem ehemaligen Kino, in dem sich heute ein Saloon befindet. Von der Decke hängen in die Jahre gekommene Ventilatoren, an den Wänden Rinderschädel. Der abgeplatzte Putz verbreitet den «Old Texan»-Charme aus Quecksilberzeiten.
So einsam es in der Geisterstadt auch sein kann, einmal im Jahr wird Terlingua zum internationalen Treffpunkt: Jedes Jahr im November pilgern über 10ʼ000 Besucher in die Big Bend Region, um beim «International Chili Cook-off» dabei zu sein. Was 1967 als Duell zwischen zwei Köchen begann, hat sich im Laufe der Jahre zu einem feurigen Kochduell mit Weltruhm gemausert. Nach Lust und Laune wird Chili con Carne um die Wette gekocht und allen voran das Leben zelebriert.
Kunst und Kultur im Nirgendwo
Ähnlich wie Geisterstädte sind auch Künstlerdörfer regelrechte Touristenmagnete, je nachdem, wie malerisch gelegen sie sind oder wer dort lebt und arbeitet. Das Wüstenstädtchen Marfa ist ein solcher Künstler-Hotspot und zeigt den Lone Star State von seiner kulturell modernsten Seite. Den Grundstein dafür legte der New Yorker Minimalist Donald Judd (Bildhauer, Maler und Architekt), als er das verschlafene Marfa zu seinem persönlichen Rückzugsort machte und die abstrakte Kunst aus dem fortschrittlichen New York in die texanische Pampa brachte. Heutzutage befindet sich auf dem ehemaligen Militärgelände, das Judd Anfang der Siebziger kaufte, die «Chinati Foundation». Neben seinen eigenen Werken sind dort auch Lichtinstallationen des Minimalisten Dan Flavin und zwei überdimensionale Kupferzirkel der Künstlerin Roni Horn zu sehen.
«Um wirklich alle Kunstwerke in und um Marfa zu besichtigen, sollte man sich einen Tag Zeit nehmen, besser zwei», empfiehlt Alvarez. Und man brauche ein Auto. Denn auf dem US-Highway 90 bei Valentine befindet sich das wohl meistfotografierte Kunstobjekt der Region: «Prada Marfa», eine Installation des dänisch-norwegischen Künstlerduos Elmgreen & Dragset, welche ein Prada-Schaufenster darstellt, in dem die Schuh-Herbstkollektion aus dem Jahr 2005 zu sehen ist. Dass mitten im Nirgendwo Schuhe im Wert von Tausenden von Dollar ausgestellt sind, soll nicht nur Konsumkritik, sondern auch die Absurdität der überspitzten Marken-Kultur vermitteln. Skurriler als ein Prada-Store in der Wüste geht es wohl kaum.
Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde unterstützt von Travel Texas.
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