Gesellschaftliche Verantwortung nicht in Sicht Die Finanzbranche in der Kritik
- 5. September 2014
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Im Vergleich zu einer Zeit vor fünf Jahren, im Rahmen der Finanzkrise, ist es um die Finanzbranche etwas ruhiger geworden. Die Verantwortlichen der Banken und die Politik beschwichtigen. Es gibt immer wieder erfolgreiche Stresstests und die Kurse steigen wieder. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Skandale und die Situation der Branche ist alles andere als stabil. Ulrich Thielemann ist schon aufgrund seines Schwerpunkts Wirtschaft und Ethik ein streitbarer Geist. Er war Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen und ist heute am vom ihm mitgegründeten Think Tank «MeM – Denkfabrik für Wirtschaftsethik» in Berlin tätig. Daher kann er sich auch zwischen den Welten der Schweiz und Deutschlands bewegen. In der Schweiz geriet er in die medialen Schlagzeilen, als er vor dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestags sagte, es gebe in der Schweiz kein Unrechtsbewusstsein bezüglich der steuerlichen Behandlung von Steuerausländern. Inzwischen ist das klassische Bankgeheimnis Geschichte. Das war aber nur ein Punkt, um mit ihm ein spannendes Interview zur Situation der Finanzbranche zu führen.
PRESTIGE: Ist das Glas halb voll oder halb leer, sprich ist die Finanzbrache auf dem richtigen Weg, aus alten Fehlern zu lernen, oder haben wir es nur mit rhetorischen Täuschungen zu tun?
Thielemann: Das hängt davon ab, was man unter «Fehlern» versteht. Für Banker oder für Aktionäre, die diese einstellen, bestehen «Fehler» darin, dass der Gewinn oder der Bonus tiefer ausfällt, als man erwartet hat. Aus dieser, sogenannten «rationalen» Sicht, wäre es beispielsweise ein «Fehler», wenn sich herausstellt, dass die Gewinne, die man etwa durch Libor- und Devisenmanipulationen, Suprime-Betrügereien oder Beihilfe zur Steuerhinterziehung erzielt hat, tiefer ausfallen, als die Bussen, die man später zahlen muss.
Aber natürlich wollen wir etwas ganz anderes unter Fehlern verstehen, nämlich genau die Ruchlosigkeit und der Mangel an Skrupel, der offenbar vor allem bei Grossbanken in den letzten Jahrzehnten Einzug gehalten hat. Diese Kultur und dieser Geist, oder besser gesagt, Ungeist, ist immer noch in den Köpfen der allermeisten Akteure, die das Sagen haben. Das liegt vor allem an den Ausbildungssystemen. Die Leute durchlaufen ja praktisch alle ein Wirtschaftsstudium. Und die Botschaft, die ihnen dort mit auf den Weg gegeben wird, lautet, sarkastisch mit Max Frisch formuliert: «Vernünftig ist, was rentiert». Manche halten das Wirtschaftsstudium für eine Art Gehirnwäsche.
Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat auf dem letzten Deutschen Bankentag auch davor gewarnt, bei aller berechtigten Kritik nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Liegt er da richtig?
Die Rede von Joachim Gauck, der stets ein Freiheitspathos bemüht und darin die Marktfreiheit einschliesst, ist von der Bankenwelt begeistert aufgenommen worden. Dies unter anderem, da er meinte, dass die Bankenregulierung möglicherweise bereits zu weit getrieben worden sei, sodass die «Quellen unseres Wohlstands» gefährdet sein könnten. Die gigantischen Vermögensbestände, die die Banken mittlerweile verwalten und die Gauck ausdrücklich erwähnt, sind nicht etwa selbst das Problem, sondern sollen den Banken Anlass sein, mit ihrer damit gegebenen Macht verantwortungsvoll umzugehen.
Die Banker hätten sich keinen besseren Bundespräsidenten wünschen können. Denn seine Botschaft lautet: «Schwört den ‹Exzessen› ab, aber macht ansonsten weiter so. Wenn ihr die Vermögensbestände erhöht, dann kann dies nur im Interesse aller liegen.» Gauck versteht gar nicht, dass wir in Zeiten einer gigantischen Blase leben. Die Finanzvermögen waren im Jahre 1980 in etwa so gross wie die Weltwirtschaftsleistung eines Jahres. Heute liegen sie beim etwa Dreifachen des Weltbruttoinlandproduktes. All die Bail-outs und die expansive Politik der Notenbanken sind darauf ausgerichtet, diese Bestände zu erhalten und auf keinen Fall zu gefährden. Nur, wer soll die Renditen erwirtschaften, um diese gigantisch angewachsenen Kapitalbestände mit Dividenden, Gewinnen, Zinsen und Tilgungen zu bedienen? Die Finanzkrise, die keineswegs überwunden ist, besteht darin, dass die Beschäftigten dieser Welt darin überfordert sind, den geforderten Kapitaldienst zu leisten.
Schauen wir uns konkretere Beispiele an. Die Deutsche Bank hat sich einer neuen Geschäftskultur verschrieben. Gleichzeitig stolpern die Verantwortlichen von einem Skandal zum nächsten. Woran liegt das?
An einer Kultur, die in der Bank offenbar nach wie vor herrscht. Die Bank sagt es selbst. Man muss nur zu deuten verstehen: Der angebliche «Kulturwandel» ist nämlich nach eigenem Bekunden Teil des «Risikomanagements». Wer von Risiken spricht, spricht von eigenen Interessen. Hier sind es «Reputationsrisiken» und vor allem «Rechtsrisiken». Ein angeblicher «Kulturwandel» wird also genau so weit betrieben, wie dessen Vorteile dessen Nachteile überwiegen. Zwar dürften angesichts der veränderten Rechtslage und der höheren Sensibilität der breiteren Öffentlichkeit, angesichts eines historisch schlechten Images «der Banker», wohl in Zukunft vermutlich weniger klar benennbare Verfehlungen zu verzeichnen sein. Doch wäre dies dann gerade kein echter Kulturwandel, sondern Opportunismus. Ein echter Kulturwandel sähe so aus, dass die Bank Geschäfte, die nicht verantwortbar sind, unterlässt, und zwar auch dann, wenn dadurch die eine oder andere Gewinnchance nicht ausgeschöpft wird, obwohl sie risikolos erreichbar wäre.
Aber es gibt doch sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise einen Wandel? Denken wir nur an die zusätzlichen Regulierungen, was zum Beispiel die Eigenkapitalquote betrifft.
Ich sehe dafür kaum Anzeichen. Die gesamtgesellschaftliche Machtkonstellation mag sich etwas geändert haben. Dazu zählen die Rechtslage, die höhere Sensibilität der Öffentlichkeit für gewisse «Exzesse», die etwas bessere Informiertheit der Bürger, auch Insiderberichte von Aussteigern und Whistleblowern und einige wenige Vorschriften, was beispielsweise das von Ihnen erwähnte Eigenkapital betrifft. Aber dies führt nicht zu einer inneren Umkehr, nicht zu einer Abkehr von Masslosigkeit und bedingungsloser Renditeorientierung. Die Banker lernen im Studium nichts anderes als dies: Wie sind die Gewinne zu steigern? Darin eingeschlossen: Wie ist mein Bonus zu erhöhen? Sie lernen, dass nur Dummköpfe nicht verstanden haben, dass Menschen nun einmal Optimierer ihres Eigennutzes sind. Und damit darf man es auch selbst sein. Und wer es nicht ist, der handelt eben nicht «rational».
Wir würden ein ganz anders aufgestelltes Wirtschaftsstudium benötigen, damit in die Finanzbranche ein anderer Geist einzieht oder auch zurückkehrt. Ein Geist der Mässigung und einer innerlich empfundenen Sorge für die Verantwortlichkeit des eigenen Tuns, nicht nur gegenüber Shareholdern, sondern auch den gesellschaftlichen Stakeholdern. Das ist seit der Französischen Revolution eine bürgerliche Selbstverständlichkeit. Der Spannungsrahmen zwischen Citoyen und Bourgeois ist da, sollte aber nicht einseitig ausgenutzt werden.
Kommen wir auf ein Schweizer Beispiel zu sprechen. Im April 2014 wird der Streit um ein Steuervehikel zwischen dem Banker Eric Sarasin und einem Kunden, dem Multimillionär Carsten Maschmeyer, zur Belastung der Privatbank, da die Kommunikation zwischen den beiden auf einem unglaublich flachen Niveau stattfindet. Die Finanzplattform Inside Paradeplatz hat die Kommunikation zwischen den beiden öffentlich gemacht.
Es ist in der Tat erschreckend, was sich da manifestiert. Da dreht sich alles ums «Einsacken» von Geld und um Statuskonsum. Auch wenn der eine dem anderen vorwirft, zu viel «eingesackt» zu haben, ist doch die Perfidität der Praktiken, durch die beide gemeinsame Sache gegen den Steuerstaat, in diesem Fall den deutschen, machen wollten, mindestens so erschreckend. Dies geschah in Form der Ausnutzung einer Gesetzeslücke, sogenannte Cum-ex-Geschäfte.
Für nicht wenige in der Schweiz galten Sie als Nestbeschmutzer, als Sie vor einigen Jahren das Bankgeheimnis infrage stellten. Heute hat sich das Thema unter anderem auf massiven Druck der USA hin erledigt. Der Informationsaustausch und die Weissgeldstrategie sind weitestgehend akzeptiert. Haben Sie dazu eine rückblickende These?
Ich wundere mich. Mit der Erklärung der OECD zum automatischen Informationsaustausch ist das Bankgeheimnis faktisch abgeschafft. Zwar mag hierbei, mit Blick auf die wirklich grossen Vermögen, die in komplex verschachtelten Briefkastenfirmen versteckt wurden, noch die eine oder andere Frage offenbleiben. Doch im Grundsatz können die Wohnsitzstaaten die Vermögenden auf ihrem Territorium nun endlich wieder so besteuern, wie ihnen dies zusteht. Somit können Normalbürger steuerlich entlastet werden.
Schade finde ich allerdings nach wie vor, dass vonseiten der Schweiz kaum eine moralische Einsicht in die Fehler der eigenen Geschäftsphilosophie zu erkennen ist. Die Argumentationsfigur der Verweigerung des fiskalischen Informationsaustausches ist allein der veränderten Machtkonstellation und dem Nachdruck, der um das Steuersubstrat ihrer Vermögenden beraubten Staaten, sich dies nicht länger gefallen zu lassen, zusammengebrochen.
Nun scheint sich die Einsicht global zu verbreiten, dass sich zivilisierte Staaten ihr Steuersubstrat nicht abspenstig machen. Und wenn sie dies tun, dann gilt dies als einem modernen Rechtsstaat unwürdig. Die Einigung ist für die Gerechtigkeit der weltwirtschaftlichen Verhältnisse von allergrösster Bedeutung.
Nach der Schweiz gibt es aber noch Steueroasen wie Hongkong, die sich weiter über Schwarzgeld freuen. Erleben wir nicht gerade nur eine Verschiebung, der wir relativ ohnmächtig zusehen müssen?
Nachdem auch Singapur die OECD-Erklärung zum automatischen Informationsaustausch unterschrieben hat, stehen alle Zeichen darauf, dass der Diebstahl an fremdem Steuersubstrat dem Ende entgegengeht. Jetzt gilt es, vor allem Druck auf die Steueroasen innerhalb der USA zu machen.
Kommen wir zu einem weiteren Stichwort, dem Leistungsprinzip. Geldeliten verdienen Summen, die gesellschaftlich kaum mehr zu rechtfertigen sind. Demgegenüber fühlt sich der Mittelstand in Europa ökonomisch bedroht. Die Annahme der Abzockerinitative in der Schweiz ist dafür ein Zeichen. Zum ersten Mal hat sich die Schweizer Wahlbevölkerung gegen die Gruppen und Institutionen gestellt, die den ökonomischen Mainstream prägen. Ist das auch für Sie ein historischer Bruch?
Der Kern der Abzockerinitiative, die ja vorsieht, dass die Aktionäre unmittelbarer als bislang über Boni abstimmen dürfen, wurde in der öffentlichen Debatte gar nicht verstanden. Die Steuerung des Managements durch finanzielle Anreize liegt nämlich voll im Interesse der Aktionäre, vor allem der gierigen unter ihnen. Dazu muss ich etwas ausholen, um den ganzen Wahnsinn der Boni verständlich zu machen. Die Aktionäre werden im Jargon der Ökonomen «Prinzipale» genannt. Das bedeutet: Ihnen stehen alle Vorrechte zu. Sie kennen keine Rendite, die zu hoch ausfallen könnte. Sie sind unbedingt gierig nach mehr Geld. Dies gilt der Theorie zufolge auch für das Management. Ergo muss dieses durch Boni dazu angereizt werden, alles rauszuholen, was sich herausholen lässt – für die «Prinzipale» versteht sich das von selbst. Wenn der Börsenwert unter unserer Führung um eine Milliarde Franken steigt, so wird etwa argumentiert: «So gebt uns doch davon, sagen wir, 10 Prozent.» – «Ein Supergeschäft», sagen die Aktionäre, «damit bekommen wir also 900 Millionen, die wir sonst nicht hätten». Und so hatte Ex-Bundesrat Caspar Villiger zu seiner Zeit als UBS VR-Präsident auch verwundert feststellen müssen, dass die Aktionäre die Boni der Bank nicht etwa für zu hoch hielten, sondern eher für zu niedrig.
Die Boni helfen den Anlegern also dabei, ihre Finanzvermögen noch weiter auszubauen. Und die Manager bekommen davon einen ordentlichen Batzen ab. Die Leistungsgerechtigkeit der Managementbezüge wird von der breiten Öffentlichkeit mit Nachdruck infrage gestellt. Wie aber sieht es mit den Kapitaleinkommen der Anleger aus? Immerhin haben die Manager für ihre Millionengagen gearbeitet.
Jetzt geht es ans Eingemachte …
Die Kapitaleinkommen zu thematisieren, dies war lange Zeit tabu. Man schaut auf das Sahnehäubchen, die Boni der Manager, aber nicht auf das, was darunter liegt. Mir scheint, dies ändert sich langsam. Daran hat der Ökonom Thomas Piketty, der aktuell überall diskutiert wird, einen guten Anteil. Piketty stellt mit Besorgnis fest, dass die Vermögen überall gewachsen sind und dass sie rascher wachsen, als die reale Wirtschaftsleistung. In diesem Zusammenhang kommt dann unweigerlich die Frage auf: Muss man für die Erzielung von Kapitaleinkommen eigentlich irgendetwas leisten? «Lassen Sie Ihr Geld arbeiten!», damit warben Banken ab und zu – und trauen sich dies heute kaum mehr, weil klar ist: Andere arbeiten, man selbst lässt arbeiten.
Aber wir brauchen doch Kapital und Investoren?
Natürlich brauchen wir Kapital, wenn und insoweit die Wirtschaft wachsen soll, wäre hinzuzufügen. Und damit sind Kapitaleinkommen nun einmal verbunden. Und in gewissem Masse sind sie auch legitim. Aber seit der neoliberalen Wende, die um das Jahr 1980 herum einsetzte, sind alle Dämme gebrochen.
Diese These braucht auch in einem Interview einige Zahlen.
In Deutschland etwa ging das Wachstum der letzten 15 Jahre mehr als komplett an die Unternehmens- und Vermögenseinkommen. In den USA redet man vom «one percent» der Superreichen. Diese verfügen über 50 Prozent des Finanzvermögens und erhalten 24 Prozent der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung. 1976 waren es noch neun Prozent. Darunter sind tatsächlich viele Manager und Banker, die ja immerhin für ihre Millionenvergütungen noch arbeiten, nicht allein Rentiers und Couponschneider. Doch selbst wenn sie rund um die Uhr arbeiten, sind die Vergütungen, die sie beziehen, Ausdruck ihrer Wertschöpfungsbeiträge oder ist hier Abschöpfung am Werke? Solche Fragen dürfen gestellt werden, erst recht mit Blick auf die Kapitaleinkommen.
Versuchen wir es historisch einzuordnen. Viele Kapitaleigner halfen den Bürgern einst beim Aufstand gegen das feudalistische Ancien Régime. Nun könnten sie wieder gegen einen Teil des Geldadels aufstehen. Stimmen Sie dieser These zu und was bedeutet dieser Bruch?
Vielleicht denken dies die Befürworter der Abzockerinitiative: Bürger sollen den Boniexzessen Einhalt gebieten. Doch ist das Eintrittsticket dafür der Besitz von ein paar Aktien. Wobei vergessen wird, dass der «Geldadel» und die institutionellen Anleger viel mehr Aktien besitzen, sodass der Protest der als Aktionäre verkleideten Bürger ein Sturm im Wasserglas bleiben wird. Das Ganze ist ja auch nur teilweise ein Konflikt zwischen Kleinanlegern und Geldadel. Es ist ein Konflikt zwischen Kapital und Beschäftigten, realwirtschaftlich Tätigen, übrigens auch Unternehmern, Normalbürgern eben. Dieser Konflikt sollte als das begriffen werden, was er ist, nämlich ein politischer Konflikt. In der Politik geht es darum, wie wir, die Bürger, zusammenleben wollen, sodass die Gesellschaftsverhältnisse gerecht sind. Es bedarf in der Tat eines Bruchs, sagen wir: mit einer neoliberalen Politik, die überall in der Welt um sich gegriffen hat und die vor allem in dem besteht, was der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn – ganz zustimmend – die «Hofierung des Kapitals» genannt hat. Die Folge ist: Die Normalbürger laufen überall im Hamsterrad, um die Renditewünsche des Kapitals zu bedienen. Aber man sieht das nicht. Das ist die eigentliche Bedeutung der «unsichtbaren Hand» des Marktes. Und weil die Verhältnisse so schwer durchschaubar sind, bedarf es der ökonomisch-ethischen, also einer kritischen Aufklärung.
Riesige Geldvermögen stapeln sich zu gesellschaftlich sinnlosen Bergen. Wie kann man diese wieder abschmelzen?
Das ist in der Tat eine Schlüsselfrage unserer Zeit. Die einfachste und im Kern auch richtige Antwort lautet: eine deutlich höhere Besteuerung des Kapitals, und zwar sowohl der Kapitaleinkommen als auch der Finanzvermögen. Piketty schlägt Grenzsteuersätze in der Grössenordnung von 80 Prozent vor. Dies würde natürlich vor allem diejenigen Einkommen treffen, die getroffen werden sollen, nämlich die grossen Kapitaleinkommen.
Der Aufschrei wäre gross …
Hier heisst es, ganz nüchtern bleiben. Ein Blick in die Geschichte hilft hier. Für die meisten wäre dies ja auch alles andere als schmerzhaft. Solche Besteuerungsverhältnisse hatten wir schon einmal. Nämlich in den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit. Es ist kein Zufall, dass damals eine breite Mittelschicht heranwuchs, die am Wohlstandszuwachs fair partizipierte. Heute jedoch, in Zeiten, in denen die oberste Maxime einer jeden nationalen Politik lautet: «Wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern«, was bedeutet: «Wir müssen attraktiv sein für das global nach Anlage suchende Kapital», geht so etwas nur global koordiniert. An diesem Punkt erkennt man, welche Bedeutung die Einigung durch die OECD zum automatischen Informationsaustausch hat.
Am Ende des Tages geht es darum, wie die verloren gegangene Reputation der Finanzbranche wieder zurückgewonnen werden kann. Ich habe bei Ihnen folgendes Zitat entdeckt. «Integrität um des Gewinns willen ist ein Widerspruch in sich. Integrität heisst, das eigene Handeln von dessen Verantwortbarkeit und Legitimität abhängig zu machen. Wer Integrität für sich reklamiert, muss den Gewinn daher entthronen und der Gewinnmaximierung abschwören.» Können Sie das am Schluss auch mit einem positiven praktischen Beispiel verdeutlichen?
Mir fällt sofort die ABS, die Alternative Bank Schweiz, ein. Weitsichtig haben die Gründerväter und -mütter dieser aussergewöhnlichen Bank in die Statuten geschrieben: «Die Bank betreibt keine Profitmaximierung.» Denn dann würde sich ja alles um den Gewinn drehen und für ethische Überlegungen und deren Umsetzung in Geschäftsstrategien und -prozesse bliebe kein Platz mehr. An erster Stelle stehen der gesellschaftliche Sinn und die Verantwortbarkeit des Handels. Überschüsse sollen vor allem reinvestiert werden, um diese Art des Unternehmertums zu stärken, und man braucht sie natürlich zur Wahrung des finanziellen Gleichgewichts, sonst geht man in die Insolvenz.
Man kann aber auch infrage stellen, ob Gewinnmaximierung in durchschnittlichen Unternehmen überhaupt praktiziert wird. Würde bereits radikal alles ausgenutzt, was sich rentable ausnutzen lässt, gingen Unternehmensberatungsunternehmen wie McKinsey das Geschäftsmodell flöten. Dennoch wird mit Gewinnmaximierung, die von Gewinnerzielung scharf abzugrenzen ist, überall und vermehrt Ernst gemacht. Im Goldenen Zeitalter der sozialen Marktwirtschaft, also in der Nachkriegswirtschaft bis etwa 1980, verstanden die Vorstände grosser Unternehmen die Führung ihres Unternehmens noch als eine Art staatsmännischen Akt, bei dem der soziale Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen eine wichtige Rolle spielte. Zeugnis davon gibt etwa die im doppelten Sinne «ungehaltene Rede» des ehemaligen Chefs der WestLB in Deutschland, Ludwig Poullain. Poullain las den Bankern die Leviten oder wollte dies auf einer hochrangigen Bankerveranstaltung tun, wurde aber, nachdem die Veranstalter das Manuskript gelesen hatten, wieder ausgeladen. Ungehalten war Poullain etwa darüber, dass die Banker Gewinnmaximierung zur Maxime ihres Handels erhoben hatten und jede Kritik daran als «zinslosen Aufwand» verbuchten. Zu seiner aktiven Zeit hat offenbar kein Bankier von Format so gedacht. Oder man denke für die Schweiz an Hans J. Bär, der nicht nur das Bankgeheimnis kritisierte, sondern auch die Bonikultur, und der einen «Klassenkampf von oben» am Werke sah. Übrigens ganz genauso wie Warren Buffet, der danach ruft, Superreiche wie ihn doch wieder anständig zu besteuern und nicht weiter zu «verhätscheln».
Dies alles sind Stimmen der Mässigung, von «Mass und Mitte», wie es einer der wenigen echten Väter der «Sozialen Marktwirtschaft», Wilhelm Röpke, formulierte. Dieser Geist kehrt, in hoffentlich modernisierter Form, erst dann wieder in die Unternehmenspraxis und so auch in die Banken ein, wenn die Ausbildungssysteme reformiert wurden, die Gleichsetzung von Eigeninteresse und «Rationalität» ebenso hinterfragt wurde wie der Glaube, die einzige Gruppe, die ans Handeln der Unternehmen legitime Ansprüche anmelden dürfe, die Aktionäre seien.