
Die biorealistische Architektur des Richard Joseph Neutra
- 10. Juli 2012
- 0 comments
- typo2wp
- Posted in Living
Metall, Glas, Stuckelemente bilden ein helles, durchlässiges Ganzes, das immer äusserst sorgfältig in die es umgebende Natur eingebettet ist. Die Bauform Bungalow erlebt immer wieder eine Renaissance und ist auf dem Immobilienmarkt sehr begehrt. Deckenhohe Fensterfronten und weitläufige helle Räume vermitteln Grosszügigkeit und Weite. Ihr Äusseres verkündet meist Understatement. Zudem ist die meist eingeschossige Bauweise ein schlagendes Argument in unserer alternden Gesellschaft. Der 1892 in Wien geborene amerikanische Architekt Richard Neutra realisierte zahlreiche dieser Domizile in Deutschland, der Schweiz und Frankreich. In der Schweiz sind besonders die Casa Grellin in Ascona, das Haus Rentsch in Wengen, das Haus Tillmann-Schmidt in Stettfurt und die Casa Ebelin Bucerin oberhalb von Locarno bekannt.
Der kalifornische Stil eines Österreichers
Richard Neutra wurde 1892 in Wien-Leopoldstadt geboren. Er entstammt einer jüdischen Familie, sein Vater war Besitzer einer Metallgiesserei. Neutra hatte schon früh Kontakt mit dem kulturellen Zirkel Wiens, einerseits über seine künstlerisch begabte ältere Schwester, andererseits über Ernst Freud, den Sohn Sigmund Freuds. Neutra entschloss sich, Architektur zu studieren, und inskribierte an der Technischen Hochschule, die eine gründliche, auf der Tradition aufbauende Ausbildung vermittelte. Da er jedoch an den neusten und modernsten Strömungen in der Architektur interessiert war, besuchte er daneben noch die von Adolf Loos ins Leben gerufene Bauschule. Dort lenkte Loos, ein Bewunderer Amerikas, die Aufmerksamkeit Neutras auf die Architektur der Vereinigten Staaten. Publikationen, die die Arbeiten Frank Llyod Wrights zeigten, weckten seine Begeisterung.
Nach seinem Studium arbeitete Neutra in Berlin bei Erich Mendelsohn und später nach seiner Auswanderung in die USA 1923 eine kurze Zeit bei seinem Vorbild Frank Lloyd Wright. Als sein Meisterstück gilt das «Lovell Health House» in Los Angeles, welches als eines der wichtigsten Gebäude des «International Style» gilt. Das in den Hollywood Hills errichtete Haus, für den Reformarzt Phillip M. Lovell, wurde, was damals noch grösstenteils unüblich war, mit vorgefertigten Stahlkonstruktionen gebaut.Ähnlich wie bei Wrights Gebäuden verwirklicht Neutra mit ihm erstmals seine Vorstellungen, Innen- und Aussenräume ineinander übergehen zu lassen. 1932 wurden seine Entwürfe in einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art vorgestellt. In ihm veranschaulichte Neutra schon zu Beginn seiner Karriere seine grundlegende Architekturauffassung; der fliessende Raum, das Verhältnis von Innen und Aussen, die Beziehung von Mensch, Natur und Bauwerk und die Erreichung seiner Ziele durch ein modernes, industrielles Bauen werden verdeutlicht. Neutra baute in seiner Architekturlaufbahn vor allem Wohnhäuser, die besonders in Europa viel Aufmerksamkeit erhielten, obwohl oder gerade weil sie einen modernen kalifornischen Stil repräsentierten. Zu seiner Popularität und vielen Bauaufträgen verhalf ihm vor allem seine Deutschsprachigkeit und die Arbeit der Amerikahäuser, denen daran gelegen war, das verführerische Bild einer modernen amerikanischen Lebensweise zu vermitteln.
Einbettung in die Natur
Richard Neutra setzte in seinen Häusern auf Sinnlichkeit mit Lust am Stofflichen der Materialien, an Holzverkleidungen und visuellen Elementen wie Wasserflächen («Reflecting Pools») und Spiegeln. Typisch für seine Gebäude sind die sogenannten «Spider Legs» – frei aus dem Haus herauskragende Träger. Für seine Entwürfe studierte er intensiv die Lebensgewohnheiten der künftigen Bewohner und reagierte auf die im Gelände vorhandenen Gebäude und Landschaften. Selbst die Akustik von Materialien wurde in seine Planungen mit einbezogen. «Biorealismus» nannte Neutra seine Methode, deren Ziel es war, den Menschen mit der Natur zu versöhnen. Gerne verband er eine leichte Metallkonstruktion mit Stuckelementen zu einem hellen, durchlässigen Ensemble. Dabei spezialisierte er sich auf die Einbettung der Architektur in sorgfältig arrangierte Gärten und Landschaften. Insbesondere der Kontrast geometrischer Strukturen zur freien Natur inspirierte ihn. Doch niemals wollte er seine Vorstellungen seinen Kunden aufzwingen, sondern war eher dafür bekannt, seinem Auftraggeber umfassende Fragebögen vorzulegen, um möglichst viele Sonderwünsche berücksichtigen zu können.
Energetische Probleme in der Schweiz
Aufgrund der grossen Fensterflächen kam es in Neutras Bauten jedoch zu energetischen Problemen. Die Dichtigkeit der Flachdächer war ebenfalls nicht völlig kontrollierbar. Auch die«Reflecting Pools» auf den Dächern und vorkragende Bauelemente waren eher für kalifornische Temperaturen als für Gebäude in den Schweizer Bergen geeignet und sorgten bei Frost hierzulande für Bauschäden. Dies, obwohl die Häuser, die Neutra in Europa baute, von einer ganz anderen Art sind als ihre amerikanischen Gegenstücke. Ausführung und Verarbeitung sind von sehr hoher Qualität, und sie erhalten luxuriöse Materialien wie zum Beispiel gebürsteten Edelstahl, Nussbaum und Marmor. Trotz all dieser Mängel in europäischen Breitengraden wurde Neutra gegen Ende seiner Laufbahn mit Ehrungen und Auszeichnungen überschüttet.
Besonders seine Visionen und Pläne für eine moderne Gartenstadt mit einfachen und preiswerten Kleinhäusern fanden grossen Anklang. In ihnen war kein spezifisches Formensystem vorgegeben, es sollte vielmehr die Vielfalt räumlicher und funktioneller Lösungen vorgestellt werden, um mit einem Minimum an Raumaufwand ein Optimum an Räumlichkeit zu erzeugen. Hierfür entwarf Neutra freistehende ebenerdige Häuser in einfacher kubistischer Form mit klarer Gruppierung der verschiedenen Bereiche, die auf die Bedürfnisse des Wohnens abgestimmt waren. Zudem wurden die Räume mit ihren Fensteröffnungen sorgfältig auf die Himmelsrichtungen hin ausgerichtet. So öffnen sich der Wohnraum mit einem breiten Fensterband nach Südwesten, die Schlafräume nach Osten und die Küche nach Nordosten. Der horizontale Duktus mit grossen Glasflächen, der seinen Bau auszeichnet, wurde 30 Jahre später in den Bungalowbauten wieder aufgegriffen.
Stets rastlos auf Vortragsreisen, um den Menschen seine Devise «Survival through Design» näherzubringen, starb er in Wuppertal, wohin er zur Besichtigung eines seiner Häuser gekommen war, an Herzversagen. Doch seine Visionen von der Aufhebung von Innen- und Aussenraum und Leben mit der Natur sind heute aktueller denn je.
Shortcut
The Complete Works
Neutra hatte einen ausgeprägten Sinn für die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Seine charakteristischen Glaswände und Decken, die sich in tiefen Überhängen fortsetzen, schaffen eine Verbindung zwischen Innen und Aussen. Neutras Talent zur Verschmelzung von Technologie, Ästhetik, Wissenschaft und Natur machte ihn zu einem führenden Vertreter der modernistischen Architektur. In dem beim Taschen Verlag erschienenen Band werden alle Werke von Richard Neutra (beinahe 300 Privathäuser, Schulen und öffentliche Gebäude) mit über 1000 Fotografien vorgestellt, darunter Aufnahmen von Julius Shulman und anderen bekannten Fotografen.