
Die Juwelen-Flüsterin
- 9. Oktober 2017
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Sie ist ein aufmüpfiger Freigeist, eine Fashion-Ikone, ein It-Girl, und sie verpasst dem Juwelierhaus Cartier, das bis dahin auf geometrisch starren Art-déco-Formen verharrt, mit einem neuen, visionären, lebendigen, wunderlich figuralen Stil, exotischen Tieren und Pflanzen sowie beweglichen Steinen nicht nur einen Neuanstrich, sondern rettet «La Maison» damit vor der drohenden Pleite. Jeanne Toussaint. Die Cartier den Panther bringt.
Jeanne Toussaint liebt lange Perlenketten, bunt bestickte Cowboystiefel, frönt dem eigenen Stil und Genuss, raucht nur mit Zigarettenspitze, pfeift auf Konventionen sowie Grenzen und hat ein untrügliches Gespür dafür, was Frauen wollen, aber am meisten sie selbst. Neben ihr erscheinen Woodstock und New Yorks legendäres Studio 54 wie Hüpfburgen für Zwerge, verblassen Lady Gaga und Grace Jones wie erlöschende Sternschnuppen. «Tous-Saint», keine Heilige und doch fast schon wieder eine, ist eine Mischung zwischen Hasardeur und weiblichem Dandy, lebt ihre unmissverständliche Eigenwilligkeit in einer Zeit vor hundert Jahren, als alles mehr nach «Unsere kleine Farm» als nach pompösem und exotischem Schick riecht.
French Cancan
Am 13. Januar 1887 wird Jeanne Toussaint in Charleroi, einem Nest in Belgien, geboren. Ihr Vater stellt Brüsseler Spitze her, die ihre Mutter verkauft. Das Leben plätschert mittelständisch langweilig vor sich hin, bis ihr Vater erkrankt und ihr Zuhause sich bedrückend verdunkelt. Mit 18 Jahren flüchtet Jeanne mit ihrem ersten Liebhaber aus der Landei-Idylle nach Paris. Zu Eiffelturm und «Moulin Rouge», zu Savoir-vivre und dem mondänen Leben an der Seine, zu Belle Époque und in ein Herrenhaus am Boulevard Malesherbes, mitten im Milieu, und zu den «Cocottes», den Prostituierten. Sie führt ein chaotisches Liebesleben, feiert die Nächte durch, ist die beste Freundin von Gabrielle «Coco» Chanel und entwirft Handtaschen, die sie mit Stickereien, Perlen, Knospen und Ketten aufpeppt und die in den Anfängen der 1920er Jahre der letzte Schrei und «Must-haves» sind.
Amour fou
Sie hat ein Techtelmechtel mit Baron Hély d’Oissel, doch als Jeanne Louis Cartier im «Maxim’s» kennenlernt, mischt das Schicksal die Karten neu und dreht sich ihr Leben um 180 Grad. Es ist der Vorabend des Ersten Weltkriegs, das Ende der Belle Époque und der Beginn einer tief sinnlichen Beziehung. Louis Cartier ist fasziniert von Jeannes Talent, ihrer Lebhaftigkeit und Fantasie. Doch heiraten darf er seine Geliebte nicht. Vor allem seinen Brüdern ist die brillante Visionärin, trotz ihres epochalen Einflusses auf das Haus Cartier, zu wild, zu lebenslustig und zu «’n Scheiss muss ich». Louis Cartier beugt sich dem Willen seiner Familie, verlässt Jeanne und heiratet eine Adlige, mit der er kreuzunglücklich ist. Jeanne, die Starke und Unbeugsame, ersetzt die Liebe des Mannes, den sie verloren hat, mit extraordinären Kreationen für Cartier, die es zu der prestigeträchtigen «La Maison Cartier» machen, die es heute ist.
Revolutionäre Kreativität
Ende der 20er Jahre verliert die betuchte Pariser High Society das Interesse an Juwelen, Cartier seine Einnahmen und Frankreich dadurch fast sein «Future»-Traditionshaus. Jeanne, die verspielte, lebendige, plastische Kreationen, Gelbgold und bunte Steine starren und leblosen Geschmeiden vorzieht, überredet Cartier, eine neue, sinnlichere Kollektion zu entwerfen, die vor allem Frauen ansprechen soll. Schmuck soll von jetzt an sexy, extravagant und jung sein. Vertritt Coco Chanel die Meinung, Schmuck müsse vor allem schön, aber nicht echt sein, setzt Jeanne auf Edelsteine, die sie in Formen verarbeitet, wie sie bis dahin nur als Modeschmuck erhältlich sind. Libellen, Drachen, Eisvögel, ein Kolibri, an dessen Schnabel Steinchen wie Futterbeute baumeln, ein Flamingo, Blüten-Broschen, die auch als Pendant an einer Kette getragen werden können, und wilde Tiere, statt kantiger und eckiger Starrheit. Jeannes Entwürfe sind grandios und so erfolgreich, dass Louis Cartier ihr 1933 die Verantwortung für die «Haute Joaillerie» überträgt.
La panthère
Nach der Rückkehr von einer Safari in Afrika begeistert sich Jeanne für den Panther, dem sie mit Edelsteinen und schwarzem Onyx für die Flecken Leben einhaucht. Um das Fell des Panthers so naturgetreu wie möglich nachzubilden, entwickelt Cartier ein besonderes Savoir-faire, die «Fellfassung», bei der die Edelsteine von winzigen, heruntergebogenen Edelmetallfäden gehalten werden. Unter Jeannes Regie entstehen einzigartige Panther-Kollektionen, denen die Herzogin von Windsor, Prinzessin Aga Khan, Maria Félix, Daisy Fellows oder Barbara Hutton verfallen sind. Es sind eigenwillige Frauen und starke Persönlichkeiten – wie Jeanne selbst. Zu einem ihrer Meisterwerke wird «Brooch», die Brosche mit dem Panther, der in spielerischer Leichtigkeit auf einem 152.35-Karat-Saphircabochon sitzt und die von der Herzogin von Windsor erworben wird.
Jeanne Toussaint bleibt Cartier und ihrem Stil bis ins hohe Alter treu. Selbstbewusst und autoritär wacht sie bis 1970 über die Kollektionen, und nur das, was ihr gefällt, kommt in den Verkauf. Die Meinung anderer interessiert sie nicht. Und auch heute noch, nach ihrem Tod 1976, ist ihr Geist im Unternehmen spürbar.
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