
Der Meister der Kurven – Oscar Niemeyer
- 3. Dezember 2012
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Sein unbestrittenes Meisterwerk ist Brasilia – die futuristische Hauptstadt seines Heimatlandes Brasilien, eine verwirklichte Utopie, die zu den Kulturschätzen des 20. Jahrhunderts zählt. Oscar Niemeyer realisierte mehr als 600 ungewöhnliche Bauten. Viele davon sind weltberühmt. Bautechnisch wie formal beschritt er immer wieder neue, riskante Wege. Dabei steht er, auch mit über hundert Jahren, dem Bauwesen durchaus kritisch gegenüber. «Die Architektur hat eigentlich überhaupt keinen Nutzen», lässt Niemeyer im Dokumentarfilm «Das Leben ist ein Hauch» verlauten. «Die Einzigen, die von ihr profitieren, sind die Reichen. Die anderen sind doch im Slum am Arsch.» Einziges sinnerfüllendes Moment der Architektur sei ihre Nutzung für soziale Projekte. Oder wenn sie Menschen überrasche und erfreue. Niemeyer versucht also die Menschen mit seinen Gebäuden glücklich zu machen. Dazu gehören für ihn viel Licht, Luft und jede Menge Platz. Er gehört zu der Sorte von Architekten, die sich noch verantwortlich fühlen für das, was sie bauen.
Brasilia – Brasiliens neue Identität
Als kleiner Junge malte Niemeyer gerne mit dem Finger in die Luft. Ihm war, als könne er das Gemalte sehen und es sogar korrigieren. Das Malen brachte ihn zur Architektur. Und noch heute kommen seine Gebäudeskizzen eher wie Bilder denn streng architektonische Entwürfe daher. Seine erste Arbeit war die Kirche São Francisco in Pampuhla. Er entwarf eine gänzlich neue Art von Kirchengebäude. Ein Gotteshaus mit vielen Rundungen. Während zur gleichen Zeit Le Corbusier dem rechten Winkel huldigte, nahm Niemeyer die Kurve. Erstmals ist hier Niemeyers unvergleichbarer Stil zu erkennen, er kreiert Rundungen und geometrische Formen, setzt sie spielerisch zusammen. Zwar wurde der Bau nie von der katholischen Kirche akzeptiert oder eingeweiht, die moderne Form war den Oberhäuptern anscheinend zu gewagt, doch er legte den Grundstein zu Niemeyers unvergleichlicher Karriere.
Der damalige brasilianische Präsident Kubitschek, welcher bereits Pampuhla in Auftrag gab, trat mit dem Grossprojekt Brasilia an Niemeyer heran. Der Bau einer neuen Hauptstadt. In einer menschenleeren Landschaft, im roten Staub des Cerrado, wurde die neue Hauptstadt Brasilia in nur dreieinhalb Jahren gebaut. Dort erschuf Niemeyer mit seinen skulpturalen Bauten eine neue Identität für sein riesiges Land und sein Volk. Er entwarf für Brasilia 83 öffentliche Gebäude und verwurzelte somit eine Architekturlandschaft, die wenige Jahrzehnte später ohne die Handschrift des Architekten nur noch schwer vorstellbar war. Kurz: Ohne Niemeyer und seine Bauten sähe Brasilien heute anders aus. Oscar Niemeyer ging auch bei der Planung Brasilias keine Kompromisse ein: «Wir arbeiteten gegen die Zeit, die Stadt war weit davon entfernt, Gestalt anzunehmen. Und ich wollte eine andere Art von Architektur machen. Ich wusste, dass die Zeit knapp war, aber das brachte mich nicht dazu, das Design einfach zu machen.» So entwarf er beispielsweise für den Alvorada-Palast ein geschwungenes Dach und geschwungene Säulen. Solche Säulen hatte man bis dahin noch nirgends gesehen. Diese besondere Form gab seiner Architektur eine weltweite Bedeutung und machte ihn über die Grenzen bekannt. Mit seinen Bauten für die Regierung, etwa den luftigen Säulenspalieren für den Präsidentenpalast «Alvorada», dem Riesenkelch für das Parlament oder der geschwungenen Kathedrale schuf Niemeyer eine in der Architektur damals neuartige Zeichensprache, die durch den beliebig formbaren Werkstoff Beton möglich wurde.
Born in Nature
Von Anfang an versuchte Niemeyer Kunst in die Architektur zu integrieren. Architektur und die schönen Künste sollten eine Symbiose bilden. «Wenn ich ein Gebäude mache, bin ich nicht zufrieden, bis ich weiss, dass es Eindruck macht und Gefühle weckt», so Niemeyer. Zudem träumt er von einer gerechteren Welt, mit Wohnblöcken, in denen Arme neben Reichen leben. Noch heute hofft Niemeyer auf die grosse Revolution. Der Architekt ist im Herzen Marxist geblieben – auch wenn er 1990 nach 45-jähriger Mitgliedschaft die Partei verlassen hat. «Die Kommunisten sind die Einzigen, die immer noch eine bessere Welt schaffen wollen», meinte der Stararchitekt in einem Interview. So, wie er es mit seiner Architektur versucht. Und wenn es schon keine politische Revolution gab, so wollte Niemeyer wenigstens mit seiner Architektur revolutionär sein.
Neben der Abneigung gegen lebensfeindliche Zweckbauten beeinflusst die Bewunderung für die Schönheit der Natur seinen aussergewöhnlichen Stil. Da scharfe Kanten und strikte Formen in der Natur nicht vorkommen, nimmt Niemeyer sich alles zum Vorbild, was schön geschwungene Rundungen hat. «Der rechte Winkel zieht mich nicht an und auch nicht die gerade, harte inflexible Linie, die der Mensch geschaffen hat. Was mich anzieht, ist die freie und sinnliche Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im mäandernden Lauf seiner Flüsse, in den Wolken des Himmels, im Leib der geliebten Frau. Das ganze Universum ist aus Kurven gemacht. Das gekrümmte Universum Einsteins.» So sehen Niemeyers Kirchen, Museen und Theater aus wie Erdhügel oder futuristische Raumschiffe. Die Farben und Formen der Wohnhäuser sind häufig auf die Natur abgestimmt, denn alles soll sich harmonisch in die Umgebung einfügen. Kein Wunder, wurde der Architekt für die Formel «Kurve gleich Frau gleich Berge» berühmt.
Früher entwarf Niemeyer zeichnend. Heute sieht er schlecht. Sobald ein neues Projekt ansteht, zieht er sich wortlos zurück und beginnt mit seiner Kopf-Architektur. Er stellt sich ein Gebäude so lange vor, bis er glaubt, die Lösung gefunden zu haben. Erst dann greift er zum Stift. Als Architekt ist er mit einem ausserordentlichen Talent gesegnet. Er springt mitten in der Nacht aus dem Bett und entwirft Gebäude, die längst zu Architekturdenkmälern auserkoren wurden. Es ist diese scheinbare Leichtigkeit, die die Verse von Carlos Drummond de Andrade beschreiben: «Im Sand des Strandes skizziert Oscar den Entwurf, springt das Gebäude aus dem Sand des Strandes.» («Na areia da praia Oscar risca o projeto, salta o edifício da areia da praia.»). Sein scheinbar spielerischer Stil breitete sich so nicht nur über Brasilien, sondern auch über 16 weitere Länder aus. Mehr als 200 Bauwerke der Marke Niemeyer gibt es ausserhalb seines Heimatlandes.
So, wie von seinen Gebäuden hat Niemeyer auch vom Tod eine klare Vorstellung: «Wir haben keine Wahl, wir werden geboren, wachsen auf, kämpfen, sterben und verschwinden für immer.» Seine Gebäude und Visionen werden ihn jedoch unsterblich machen. Schon jetzt ist er in Brasilien ein lebender Mythos und auch in der Kunstwelt ist Niemeyer seit langem ein Liebling. Terry Richardson veröffentlichte Modefotos mit seinen Gebäuden als Kulisse, Zaha Hadid bezieht sich in ihren Werken auf ihn. Und selbst der «Spiegel» bezeugte: «Nie wieder wird die Zukunft so gut aussehen wie mit den Bauten des Brasilianers Oscar Niemeyer.»