
Der bescheidene Anti-Star – JUAN LUIS GUERRA
- 8. Oktober 2012
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Der 1,94 Meter grosse, auf den ersten Blick eher schlaksig wirkende dominikanische Sänger und Gitarrist Juan Luis Guerra ist bereits heute eine lebende Legende. In der Karibik und den lateinamerikanischen Staaten wird er beinahe wie ein Gott verehrt und auch in den USA, Europa und sogar Asien vergrössert sich seine Anhängerschaft stetig. Schon von klein auf war Juan Luis Guerra von der Musik fasziniert. Oftmals trägt er im Kreise seiner Familie Lieder vor und von seinem Bruder erhält er seine erste Gitarre geschenkt. In der Schule belegt er mit Literatur und Philosophie Fächer, die ihm später als Songwriter behilflich sind. Er ist ein Bewunderer der kubanischen «Nueva Trova», die in den 60er Jahren entstand. Die Textinhalte waren mehrheitlich politischer Natur und die «Neuen Troubadoure» liessen sich mit den amerikanischen Protestsängern wie Bob Dylan und Joan Baez vergleichen, die ebenfalls den Imperialismus und die Armut thematisierten.
Nach einem vierjährigen Studium am Musikkonservatorium in Santo Domingo schreibt sich JL 1980 am bekannten Berklee College of Music in Boston ein, um Jazz, Komposition und Arrangement zu studieren. Während seiner Studienzeit in Boston nutzt JL jede Möglichkeit, dem bitterkalten Winter zu entfliehen, und reist nach Santo Domingo, wo er möglichst oft auftritt. So spielt und singt er an einem Tribute-Konzert für John Lennon, der 1980 ermordet wurde, oder auch bei «Jesus Christ Superstar». Doch in Boston ist JL ein Gitarrist unter vielen. Man spielt Gitarre im Stile von Wes Montgomery, einem bekannten amerikanischen Jazz-Musiker. Doch eines Abends nimmt JL seine Güira, ein dominikanisches Rhythmusinstrument, in die Hand und spielt einen typischen Merengue-Rhythmus. Sofort hat er die Beachtung des Publikums. Dies ist etwa Neues, Unbekanntes und Faszinierendes für die Zuhörer. Ihm wird bewusst, dass er die Musik seiner Heimat spielen muss, die ihn immer geprägt hat, um sich von der grossen Masse abzuheben.
Die Musik der Strasse
Nach Beendigung seines Studiums in Boston kehrte JL 1983 in die Karibik zurück. Mit seinem Talent und dem erworbenen Wissen über Arrangements und Komposition startet er ins Berufsleben, wo er Werbejingles für Radio- und TV-Stationen produziert. Dabei arbeitet er immer mit den einheimischen Musikern Maridalia Hernández, Mariela Mercado und Roger Zayas-Bazan zusammen, mit denen er 1984 seine erste Schallplatte «Soplando» einspielt. Seine Begleitband nennt sich «Los 4:40», wobei 440 für die Hertzfrequenz des Kammertons A steht. Diese Schallplatte orientiert sich noch sehr am amerikanischen Mainstream im Stile von Bands wie Manhattan Transfer. Bereits auf seiner zweiten Platte «Mudanza y Acarreo» von 1985 sind die Einflüsse der in den Strassen von Santo Domingo allgegenwärtigen einheimischen Musik von Merengue, Bachata und Salsa vordergründig.
Mit «Mientras mas lo pienso…t?» von 1987 manifestiert er seinen unverkennbaren neuen eigenen JL-Guerra-Sound. Alle Lieder sind von ihm und der Band komponiert. «Guavaberry» und «Me enamoro de Ella» sind bereits heute Klassiker. Der Grundstein für eine grosse Karriere ist gelegt – obwohl seine beispielhaften Arrangements (noch) keine internationale Beachtung finden.
Nachdem die musikalische Richtung gefunden wurde und JL nach dem Ausscheiden von Maridalia Hernández mit seinen vokalischen Fähigkeiten alleiniger Leadsänger wird, stürmt er mit «Ojala que llueve café» in den lateinamerikanischen Ländern die Charts. JL beginnt auch mit politisch motivierten Liedern auf die chaotischen und korrupten Situationen in diesen Ländern hinzuweisen. Die 1989 erschienene Schallplatte ist eine Ansammlung verschiedenster Wunschträume. Mit «Visa para un sueno» beschäftigt sich JL mit der Emigration aus seinem armen Heimatland. Mit seiner ersten CD, dem 1991 erschienenen «Bachata Rosa», die sich über fünf Millionen Mal verkauft, ist die Hitmaschinerie JL Guerra vollends in Gang gebracht. Der langersehnte internationale Durchbruch ist geschafft und JL beginnt mit dem Sammeln begehrter Auszeichnungen und seinem ersten der bis heute 20 Grammies. Die meisten der Lieder auf «Bachata Rosa» sind schon heute Klassiker der lateinamerikanischen Musik.
Soziales Engagement und kritische Musik
Im gleichen Jahr gründet JL die «Fundaci?n 440» – heute «JL Guerra Stiftung» genannt, welche behinderte Kinder und Waisen unterstützt. Heute hilft die Stiftung in allen Bereichen des Gesundheitswesens, baut Spitäler und investiert in ein gutes Bildungswesen sowie in den Bau von Sportanlagen. Mit der CD und dem Stück «Areito», welches 1992 zur 500-jährigen Entdeckung von Amerika erschien, gedenkt er der Ureinwohner der Dominikanischen Republik. Mit «Naboria Daca Ae Mayanimacaná» singt erstmals ein Künstler in der Sprache der Taino-Indianer. Konsequent veröffentlich JL kritische Lieder wie «Si saliero petrolio“ und protestiert mit «Costa de la vida» gegen die ärmlichen Bedingungen, unter denen die meisten Dominikaner leben müssen. Das Lied wird in den USA als antiamerikanisch empfunden und von den Radiosendern auf die Black List gesetzt und boykottiert. Mit grossen Tourneen festigt er seinen Einfluss in den lateinamerikanischen Ländern und tourt auch extensiv durch Europa. Eingeschüchtert durch die vielen Kritiker, verzichtet JL bei seinem nächsten Album auf politisch angehauchte Texte. Vielmehr macht er bei «Fogarate» von 1994 wieder einen Schritt Back to the Roots. Er kombiniert die Einflüsse des afrikanischen Soukous mit einheimischem Merengue. Unterstützt wird er dabei vom bekannten kongolesischen Gitarristen Diblo Dibala.
Unruhestand und JL konvertiert zum Evangelismus
Nach den intensiven Tourneen, bei denen er oftmals nicht wusste, in welchem Land er sich gerade befand, nimmt JL erst mal eine Auszeit. In einer dominikanischen Radio- und Fernsehstation bietet er in einer eigenen Sendung talentierten Musikern eine Plattform, sich einem breiten Publikum zu präsentieren. Nebst seinen eigenen Hits schreibt er auch für andere Künstler, die mit seinen Kompositionen regelmässig die Hitparaden in vielen Spanisch sprechenden Ländern anführen (zum Beispiel Luis Miguel – «Hasta que me olvides»).
Mehr und mehr wird JL zum Hit-Garanten.
Mit «Ni es lo mismo ni es igual» aus dem Jahre 1998, welches Merengue mit Rap-Einflüssen kombiniert, räumt er gleich drei Grammies ab. Mit dem bekanntesten Song «El Niagara en bicicleta» macht er auf die haarsträubenden Zustände in den überfüllten öffentlichen Spitälern, die auch mit Stromausfällen zu kämpfen haben, aufmerksam. Erst sechs Jahre später erscheint das nächste Album. JL ist zum Evangelismus konvertiert und mit «Para ti», mit dem er zwei weitere Grammies gewinnt, preist er seinen Gott, dem er alles zu verdanken hat. Im Gegensatz zu vielen anderen erfolgreichen Künstlern steht JL immer mit beiden Füssen fest auf dem Boden. JL ist ein Ausnahmekünstler, der seine Hits seiner Intuition, seiner Aufmerksamkeit und seinem Feeling für den richtigen Sound verdankt – keine Alkohol- oder Drogenexzesse pflastern seinen ruhmreichen Weg und es gibt auch keine wechselnden Partnerinnen. JL verdankt seine innere Ruhe seinem Glauben und seiner Familie. Insbesondere seiner Frau Nora, die er in Boston kennen und lieben gelernt hat und mit der er seit 1983 glücklich verheiratet ist.
Unaufhaltsam nach ganz oben
In den folgenden Jahren feiert er mit grösseren Tourneen das 20-jährige Bühnenjubiläum seiner Gruppe 440. So spielt er unter anderem gleich sechs ausverkaufte Konzerte im Madison Square Garden. Als erster lateinamerikanischer Künstler darf JL 2006 das Konzert der Rolling Stones in Puerto Rico eröffnen und auch mit Sting stand er im gleichen Jahr auf der Bühne.
Mit dem Duett «Bendita tu luz» mit Mana belegt JL den ersten Platz der «Billboard»-Charts. Im Frühjahr 2007 erscheint «La llave de mi coraz?n», das 10. Album von JL Guerra & 440. Es ist seit «Bachata Rosa» das romantischste. Sowohl Album wie auch der Titelsong sind schon bald auf Platz 1. Im Videoclip spielt und tanzt die bezaubernde Dominikanerin Zoë Saldana, die mit «Avatar» und «Colombiana» als Schauspielerin Weltruhm erlangte. JL Guerra gewinnt in allen nominierten Kategorien und tritt als überglücklicher Sieger mit sechs Grammies die Heimreise an.
Zudem erhält er einen Ehrendoktor der Universität in Santo Domingo sowie der Berklee University of Music, an denen er studiert hat, wird zum Musiker des Jahres gewählt, vom «Billboard Magazine» erhält er den Spirit of Hope Award für seine sozialen Verdienste und auch von der UNESCO wird er als Künstler für den Frieden geehrt. Er tritt in Chile und Mexiko auf, um behinderten Kindern zu helfen, und tritt zusammen mit Juanes am Konzert «Paz sin Frontera» für den Frieden in den Ländern Venezuela, Kolumbien und Ecuador ein. Im August 2008 führt ihn die «Travesia»-Tour auch nach Europa. In der Dominikanischen Republik spielt JL im Olympiastadion vor 50’000 jubelnden Fans und wird im Frühjahr zu einem der einflussreichsten Männer Lateinamerikas erkoren. Sogar in Amerika ist «La llave de mi coraz?n» einer der meistgespielten Radiosongs!
Nach dem schrecklichen Erdbeben in Haiti, welches die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, organisiert JL sofort ein Konzert im Olympiastadion in Santo Domingo. Nebst JL treten weitere internationale Stars wie Juanes und Enrique Iglesias auf. Von den über 40’000 Besuchern werden über 2,5 Millionen Dollar gesammelt. Dieses Geld wird in den Bau eines Kinderspitals in Haiti investiert. JL zögert nie! Wenn er die Möglichkeit sieht zu helfen, dann ist er jederzeit zur Stelle.
Ein unverkennbarer Stil
Mit Enrique Iglesias singt er im Duett «Cuando me enamoro» und Juanes begleitet JL auf «A son de Guerra», welches Mitte Juni 2010 erscheint Das Album, welches wieder das breite musikalische Spektrum von Cumbia, Merengue, Bachata, Rock, Salsa und Mambo von JL aufzeigt, erhält die besten Kritiken. JL drückt jedem Song der verschiedensten Stilrichtungen immer seinen unverkennbaren Stil auf. 2012 erscheint seine «Colecci?n Cristiana». Nebst einigen älteren Songs besticht JL wiederum mit einigen Preziosen. «En el cielo no hay hospital» könnte auf jeder «normalen» CD von JL erschienen sein. Als Musical Director und Produzent hat JL Anfang Februar das «Juanes MTV Unplugged», das erste Live-Album seines kolumbianischen Freundes Juanes überhaupt, künstlerisch begleitet. Die nächsten Grammies sind ihm sicher.
Nach seinem Konzert im Juni in Santo Domingo, bei dem über 50’000 Zuschauer in strömendem Regen ausharrten, gab JL auch zwei ausverkaufte Konzerte in Zürich und München, in denen ihm jeweils fast 2‘000 Zuschauer frenetisch zujubelten.
Trotz den unbefriedigenden Zuständen in seinem Heimatland ist JL ein bekennender Patriot. So schrieb er eigens für die Olympischen Spiele in London eine Hymne für die dominikanischen Sportler.
JL ist ein Künstler der Melodik. Nach dem Motto «Weniger ist mehr» erscheinen alle paar Jahre einzigartige Juwelen von herausragender Qualität, die für die Ewigkeit bestimmt sind. Seine Vielfältigkeit und seine interessanten Fusionen mit den verschiedensten musikalischen Stilrichtungen, die bei JL wie selbstverständlich klingen, sind einmalig. JL wird dadurch auch zu einem universellen Vermittler der variantenreichen Stile. Seinem grossen Vorbild Sir Paul McCartney steht JL in keiner Weise nach, hoffentlich werden diese beiden grossen Künstler bald einmal ein gemeinsames musikalisches Meisterstück abliefern.