Das Gold der Ostsee
- 29. September 2016
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Bernstein, das versteinerte Harz aus dem Meer, bewegt die Phantasie der Menschen seit Jahrtausenden. Heute ist es wertvoller denn je. Auch die Bernsteinmafia macht gute Geschäfte. Die alten Griechen nannten den merkwürdig weichen und oft durchsichtigen Stein «Electron», denn wenn man ihn an einem Wolltuch reibt, wird er statisch aufgeladen und zieht kleine Partikel wie etwa Staub aus der Umgebung an. Die Griechen hatten das versteinerte Harz, das irgendwie magnetisch war, ohne ein Magnet zu sein, von Händlern erhalten, die es auf der berühmten Bernsteinstrasse von der Ostsee mitgebracht hatten. Richtig in Schwung kam der Handel unter dem römischen Kaiser Nero, denn für die luxusliebenden Römer war Bernstein ein «must have». Die wichtigsten Bernsteinvorkommen befinden sich noch immer im Baltikum. Nach Stürmen werden häufig einzelne Bernsteine an die weiten Sandstrände der Ostsee gespült. Die bei Strandläufern begehrten Stücke landen meist in lokalen Schmuckwerkstätten zur weiteren Verarbeitung. Die grössten Lagerstätten der Welt befinden sich im russischen Oblast Kaliningrad, also rund um das alte Königsberg. Fast 90 Prozent aller Bernsteine kommen von dort.
Ein echtes Weltwunder
Es war im Jahre 1701, als in Berlin ein einzigartiges Meisterwerk aus Königsberger Bernstein entstand, das sogenannte Bernsteinzimmer: ein Raum, dessen Wände aus kunstvoll gearbeiteten Verkleidungen bestand, die aus Bernstein in unterschiedlichen Farben gefertigt waren. Undurchsichtige weisse Steine bildeten barocke Rahmen, goldgelbe und dunkelbraune die aufwändig verzierten Innenflächen. Bei einem Besuch des russischen Zaren Peter des Grossen in Berlin tauschte der Preussenkönig Friedrich Wilhelm I. das Bernsteinzimmer gegen russische Soldaten für sein Königsbataillon. Es bestand aus sogenannten «Langen Kerls», weil jeder Soldat, der in diesem Bataillon diente, mindestens 1,88?Meter gross sein musste. Während die riesigen Russen aus den weiten Teilen des Landes in Richtung Berlin marschierten, wurde dort das Bernsteinzimmer abmontiert, verpackt und in den gewaltigen Katharinenpalast in Zarskoje Selo vor den Toren Sankt Petersburgs gebracht. Nach einigen Anpassungen und Umbauten entstand im Katharinenpalast ein goldschimmerndes Appartement, in dem später Zarin Katharina die Grosse gern hochrangige Gäste empfing. Die Besucher rühmten das Bernsteinzimmer als achtes Weltwunder.
Im Sommer 1941 begann die Operation Barbarossa der deutschen Wehrmacht und schon nach wenigen Wochen stand die Heeresgruppe Nord vor den Toren von St. Petersburg, das die Sowjets nach der Oktoberrevolution in Leningrad umbenannt hatten. Russische Fachleute hatten verzweifelt versucht, neben den übrigen Kunstschätzen des Katharinenpalastes auch das Bernsteinzimmer in Sicherheit zu bringen. Doch die deutschen Truppen kamen so schnell voran, dass nur Zeit blieb, die Bernsteinwände hinter eilig aufgeklebten Tapeten zu verstecken. Als sich der Belagerungsring um Leningrad schloss, wurde der Katharinenpalast Quartier der Wehrmacht. Die ehrwürdige Schlosskirche diente nun als Garage für den Fuhrpark der Soldaten. Deutsche Kunstexperten entdeckten schnell die Bernsteinwände unter den Tapeten und in nur 36?Stunden war das gesamte Bernsteinzimmer demontiert und in Kisten verpackt. Am 13. November 1941 trafen sie per Bahn im Königsberger Schloss ein. Hier verliert sich die Spur des achten Weltwunders.
Ohne jede Spur
Wurde das Bernsteinzimmer bei der Bombardierung durch die Royal Air Force 1944 zerstört oder Anfang 1945 vor der anrückenden Roten Armee in Sicherheit gebracht? Und wenn ja, wohin? Oder wurde es im April oder Mai 1945 bei der Schlacht um Königsberg vernichtet? Archäologen, Schatzsucher und Geheimdienste sind seither dem Bernsteinzimmer auf der Spur. 1997 tauchte ein Bild auf, das ursprünglich im Bernsteinzimmer hing – ansonsten blieb die Suche bis heute erfolglos.
Seit dem Jahr 2003 können Besucher die Rekonstruktion des Bernsteinzimmers im Katharinenpalast bewundern. Sechs Tonnen Bernstein in 350 verschiedenen Farbtönen aus Kaliningrad wurden von Spezialisten in jahrzehntelanger Arbeit zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk zusammengefügt. Oligarchen und wohlhabende Kunstkenner können sich von den Künstlern, die an der Rekonstruktion des sagenhaften Zimmers mitgewirkt haben, hochwertige Kunstwerke aus Bernstein kaufen oder sich gleich ihr eigenes Bernsteinzimmer anfertigen lassen. Die Restauratoren betreiben ihre Werkstatt im Keller des Katharinenpalastes seit 2003 weiter. Was hier angeboten wird, unterscheidet sich qualitativ und auch preislich deutlich von den Produkten, die in den Geschäften der alten Hansestädte des Baltikums an Touristen verkauft werden.
Bernstein stand lange Zeit im Westen nicht besonders hoch im Kurs. Wer nicht gerade an Omas langweilige Bernsteinkugelkette dachte, glaubte vielleicht an die angeblich magische Kraft der weichen Steine in Beissringen und Zahnketten für Babys. Im Gegensatz zu eher nüchternen Geologen schreiben Esoteriker dem Bernstein Heil- und Schutzkräfte zu. Er soll Ängste nehmen und Lebensfreude schenken. Trotz dieser angeblichen Segnungen blieb der Kreis der Bernsteinliebhaber bis vor kurzem überschaubar.
Diese Situation hat sich inzwischen geändert. Seit immer mehr Chinesen durch die Strassen von Danzig, Riga oder Tallin schlendern, steigt die Nachfrage nach Bernstein enorm. Der Grund: In China sind die Vorräte an Jade deutlich zurückgegangen. Das prähistorische Baumharz wird von den Chinesen als interessante Alternative zur grünlichen Jade gesehen. Innerhalb kurzer Zeit sind die Preise für das Gold der Ostsee um bis zu 800?Prozent gestiegen! Die neuen Gewinnmöglichkeiten lockten auch zahlreiche Raubgräber an die Küsten von Kaliningrad, die von der Polizei mit mehr oder weniger grossem Eifer verfolgt werden. Die Nachfrage übersteigt auch dieses illegale Angebot, denn immer mehr Käufer aus dem arabischen Raum zeigen Interesse für Bernstein. Inzwischen hat sich sogar in der Ukraine an der Grenze zu Polen eine Mafia etabliert, die in den weitgehend unberührten Wäldern illegal nach Bernstein gräbt und die Steine zum Verkauf nach Polen schmuggelt. Tausende Bergleute sollen auf diese Weise pro Jahr bis zu 300?Tonnen Bernstein illegal fördern. Der Kampf der Sicherheitsbehörden ist weitgehend aussichtslos. Das Fördergebiet ist riesig, abgelegen und unwegsam. Die anfallenden Gewinne sind hoch genug, um schlecht bezahlte polnische und ukrainische Grenzbeamte und Polizisten zu überzeugen, hin und wieder wegzuschauen…
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