
Das Tor zum Leben
- 11. Juli 2017
- 0 comments
- typo2wp
- Posted in Art & Culture
Während fünf Jahren ist es nicht nur ein Club, in dem sich Künstler wie Madonna, Harvey Wang, Cindy Lauper und zahlreiche andere die Klinke in die Hand geben. Nirgendwo sonst und nie mehr wieder lechzen Kreative so sehr danach, «Märtyrer» ihrer Kunst zu sein. Zwischen 1970 und 1980 erblüht New Yorks Stadtteil East Village zu einer Drehscheibe des sozialen Lebens und der Kreativität mit dem legendären Club 57 als epische Bühne für expressive Künstler.
Es ist eine düstere Dekade für die Bevölkerung des Big Apple, der kein frischer und knackiger, sondern ein von Würmern zerfressener, fauler Apfel ist. Es ist eine Zeit, in der die an der Südspitze Manhattans gelegene und heute mit Luxusapartments und Upperclass-Bewohnern aufgepeppte «Bowery», die an das East Village, die Canal Street und Chinatown grenzt, ein verwahrloster Slum ist, wo Drogendealer, Kleinkriminelle und Prostituierte vom Slope Park bis zum Times Square auf offener Strasse ihre Geschäfte abwickeln und Gotham in einer Finanzkrise steckt. Heroin und Crack haben New York fest im Griff und heizen die Gewaltbereitschaft noch mehr an. Frauen stopfen nebst Lippenstift und Portemonnaie Pfefferspray in ihre Handtaschen, Männer bitten Taxifahrer, so lange zu warten, bis sie die paar Schritte bis zur Haupttüre ihres Wohnhauses erreicht haben, Sprayer-Crews «bomben» Züge mit Graffiti voll, und als am Mittwoch, dem 13. Juli 1977, ein massiver und 25 Stunden andauernder Stromausfall alles lahmlegt, ist es New Yorks dunkelste Nacht mit katastrophalen Auswirkungen.
Aufgebrachte, vandalierende Horden plündern vor allem in den ärmlichen Gegenden 1600 Geschäfte, fackeln ganze Häuserblocks ab und legen mehr als 1000 Brände. Wie eine entflammte Zündschnur rast das Desaster durch die Stromleitungen und bringt von der Bronx bis zur Battery, von Norden nach Süden alles zum Stillstand, was in der Megametropole Elektrizität benötigt: Ampeln, Klimaanlagen, Züge, U-Bahnen, Laternen, Aufzüge, Krankenhäuser, nichts geht mehr, game over. Millionen Menschen sitzen im Dunkeln, dicke Rauchschwaden ziehen in den nächtlichen Himmel, und die New Yorker erleiden mit diesem einschneidenden und an Anarchie grenzenden Erlebnis eine psychologisch tiefgreifende Erschütterung. Der finanzielle Schaden bewegt sich in Milliardenhöhe, und die Story der «Time» erscheint am Montag unter dem Titel «Die Nacht des Terrors».
Allen Widrigkeiten zum Trotz
Vielleicht ist es gerade dieser Gestank von Rohheit, Zerstörung, Tod und Ausweglosigkeit, der wie sumpfiger Morast alles Gute und jegliche Hoffnung wie Treibsand zu verschlucken versucht und dadurch eine paradoxe Opposition entstehen lässt, in der vor allem sensible Künstlerseelen nach Lebendigkeit dürsten, es in ihrem Inneren explodiert und sie all das Böse und Trostlose um sich herum in schillernde, extravagante, fast schon abgedrehte Farben, Darbietungen, Worte und Songs verwandeln. Es ist eine Revolte gegen die herrschende Gewalt und ihre Ungesetzten und zugleich Rebellion gegen die amerikanische Pseudosittlichkeit innerhalb gutbürgerlicher Familien, sonntäglicher Kirchgänge, der «Waltons», «Drei Mädchen und drei Jungen» sowie «Skippy, das Buschkänguruh». Es ist der Schrei nach epochaler Veränderung, wo Gefühle mit aller Macht ausbrechen und sich wie eine Flut über die herrschende Beklemmung ergiessen und je dunkler die Schatten, desto bunter, glitzernder, verrückter, durchgeknallter und abgedrehter die künstlerische Retourkutsche ist.
Schmelztiegel
Die Mieten sind tief und die Wohnungen Manhattans mit Möchtegern-Schreibern, -Sängern und -Tänzern bewohnt. Jahre später, wenn Wohlstand, Investment, teure Galerien und Millionen Dollars sich in diesem Viertel ausbreiten, werden sie nach Bushwick oder Hoboken verdrängt. Jetzt aber, in diesen wilden Siebzigern und der Aufbruchstimmung, die nicht nur nach «alles ist möglich» riecht, sondern tatsächlich unbekannte und mittellose Nobodys zu Stars mutieren, sitzen sie Stuhl an Stuhl, Kippe an Kippe, Joint an Joint, Whisky an Whisky beisammen. Während einer der schlimmsten Phasen werden hier die wahrscheinlich eindrücklichsten Werke erschaffen, die wie ein Flehen an ihr heissgeliebtes New York wirken, wo Reich und Arm in der gleichen Misere hocken, die nicht mal mit Geld zu heilen ist.
Punk, Petticoat, Sex & Drugs
Am 8. Februar 1978 um 18:57 Uhr abends eröffnet Stanley Zbigiew Strychacki den Club 57 im Keller der Holy Cross National Church St Marks am 57 St Marks Place im East Village. Der von der Kirche gesponserte Nachtclub, der als No-Budget-Event für Musik- und Filmausstellungen beginnt, avanciert innerhalb kürzester Zeit zu einer Konstellation gegenkultureller Events in Downtown New York und beeinflusst nahezu jeden der Clubs, die im East Village wie Pilze aus dem Boden schiessen. Der Club 57 ist die Hauptzentrale kreativer Aktivitäten, wo Punk-Musik, Gonzo-Journalismus und Körperkunst geboren werden und die kreativen Köpfe beseelt davon sind, mit neuen Formen in Kunst, Darstellung, Fashion, Musik und Ausstellungen zu experimentieren. Nicht ausgeflippte Hipster, Rockabilly Girls in bauschigen Petticoat-Röcken, Elastan-Hosen und Stilettos üben den stärksten Einfluss auf den Club aus, sondern die Homosexuellen-Szene der School of Visual Arts, die Trendsetter und Stilpräger. Es ist die Ära vor AIDS und der Ausbruch lebenshungriger Zügellosigkeit, wo die Sinne Befriedigung und die Seelen Befreiung suchen und das mit ausufernden, von Drogen und Alkohol umnebelten Orgien sowie einzigartigen Kunstformen und -werken ausleben.
Kreatives Schlaraffenland
Die Ballung an Ideen, schöpferischem Drang und Lebendigkeit lässt einerseits das East Village, das aus seinem starren Dornröschenschlaf erwacht ist, im Eiltempo zu einem botanischen Garten mit haufenweise Exoten erblühen und verleiht andererseits den Studenten und Talenten Flügel. So hemmungslos, wie sie im Club 57 Partys feiern und manchmal am nächsten, verkaterten Morgen nicht mehr wissen, mit welchen Körpern sie sich vergnügt haben, so uneingeschränkt und bedingungslos widmen sie sich ihrem kreativen Ausdruck, den sie nicht nur aus ihren Fantasien schöpfen, sondern der sich überall um sie herum befindet. Im wahren Leben. Das Schlechte und Gute, das Moralische und Amoralische, die Kurven des Lebens, die Ecken und Kanten eines Menschen, die Neugier auf Neues, Veränderung des Alten, Genuss und Lust. Es ist ihr New York, das sich in Unmengen von Bildern, Fotografien und Filmen wiederfinden wird. Ihre geschundene Stadt, die im Club 57 und dem East Village dokumentiert wird.
Geschlossen, aber nicht vorbei
Die rasante Veränderung des East Village und der angrenzenden Stadtviertel bietet neue Möglichkeiten mit neuen Bühnen. 1981 besucht Steve Mass, der Betreiber des Mudd Club im TriBeCa-Viertel, den Club 57 und beginnt dessen Mitarbeiter abzuwerben, um damit auch einen Teil der East-Village-Szene zu gewinnen. Als weitere Mitarbeiter sich anderen Projekten zuwenden und es die Künstler zu grösseren und exklusiveren Veranstaltungsorten zieht, gehen am 1. Februar 1983 im Club 57 die Lichter aus und schliessen sich die Pforten.
Die Schauplätze in der Stadt, die niemals schläft und einen wahren Nährboden für Fantasie und Kreativität bildet, ändern vielleicht ihre Austragungsorte, doch die späten Siebziger und frühen Achtziger hinterlassen eine Nostalgie und Wehmut, die keine der kommenden Dekaden und Trends jemals erreicht hat und erreichen wird.
Comments are closed.