
China – eine Reise über die Zukunft in die Vergangenheit
- 10. Dezember 2019
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Von der über 400 km/h schnellen Magnetschwebebahn in Shanghai zu den archaischen Wasserbüffeln in den Reisfeldern von Yuanyang. Eine 8000 Kilometer lange Rundreise durch ein faszinierendes Land im Um- und Aufbruch.
Abgesehen von den asiatischen Gesichtszügen der meisten anderen Reisenden und den chinesischen Schriftzügen auf den Schildern könnten wir nach unserem zwölfstündigen Direktflug ab Zürich ebenso gut in New York gelandet sein. Auch hier werden wir wie Schafe durch grosse Hallen, vorbei an Fingerabdruck-Scan-Maschinen und Stehtischen mit Einreiseformularen in die Koppeln der Einwanderungsbehörden getrieben. Endlich ist auch die letzte gelbe Wartelinie-Hürde überwunden, und eine mürrisch gelangweilte Beamtin gibt in ihrem Kabäuschen widerwillig das Einreise-Okay per Stempel. Immerhin drehen auf dem Gepäckband bereits die unversehrten Koffer ihre Runden. Bleibt noch ein letzter X-Ray-Check des Gepäcks, und wir sind rund eineinhalb Stunden nach der Landung tatsächlich in Shanghai angekommen, was okay ist.
So weit kein grosser Unterschied zum Ankommen beim grossen Gegenspieler im fernen Westen. Doch dann fahren wir in einem fast neuen, sauber herausgeputzten Taxi Richtung Shanghai und werden anders als in New York weder von Schlaglöchern noch von Baustellen und Staus ausgebremst. Auf der neuen, sechsspurigen Autobahn geht es zügig voran, wobei auffällig viele Luxus- und vor allem auch Elektro-Limousinen mit grünen Nummernschildern unterwegs sind.
In der Ferne sind auch schon die Umrisse der imposanten Skyline zu erkennen, als wir plötzlich rechts auf einer erhöhten Trasse in rasendem Tempo von einer Magnetschwebebahn überholt werden. Diese beschleunigt auf der 30 Kilometer langen Pilotstrecke zwischen dem Flughafen und dem neuen Expo Centre bis auf eine Topgeschwindigkeit von 430 km/h und ist damit der schnellste, kommerziell genutzte Zug der Welt. Wer als «Westler» via Shanghai durch China reisen will, reist zuerst in die Zukunft.
Ruhige, grüne Stadt mit Elektro-Rollern
Je nach Quelle und Erhebungsart ist Shanghai mit aktuell über 25 Millionen Einwohnern eine der grössten, wenn nicht sogar die grösste Stadt der Welt. Umso verblüffender ist der erste Eindruck, nachdem wir von der Hochautobahn, die ringförmig die Metropole erschliesst, ins Zentrum hinabtauchen. Trotz morgendlichem Berufsverkehr ist das Chaos auf den Strassen moderat. Auch als wir am Nachmittag durch das schmucke Quartier der French Concession schlendern, bleibt die erwartete asiatische Grossstadt-Hektik aus. Im Gegenteil, zumeist führen schmucke Alleen vorbei an Wohnhäusern mit Gärten und Parkanlagen. Das Quartier versprüht den internationalen Charme von einst mit einer Fülle von kleinen Boutiquen, Cafés und Bars. Doch vor allem fehlt der Gestank von Tausenden von Benzin-Rollern oder Tuk-Tuks, wie man es von Bangkok oder Manila her kennt. Diese wurden quasi per Dekret in Form von extrem teuren Abgaben von den Strassen verbannt. So erfolgt die Nahversorgung und Mobilität zumeist über surrende Elektro-Roller oder Sharing-Fahrräder.
Touristisches Epizentrum in Shanghai ist aber der Bund, wo wir uns mit dem Hotel «Peninsula» im ersten Haus am Platz einquartiert haben. Von der Flusspromenade aus werden tagtäglich Abermillionen Fotos und Selfies mit der Skyline von Shanghai geschossen. Diese beinhaltet die Wolkenkratzer des Finanzviertels auf der anderen Seite des Huangpu-Flusses. Es handelt sich dabei um den westlichen Teil des Stadtbezirkes Pudong, der in den Neunzigerjahren als Business- und Wohngebiet aus dem Boden gestampft wurde. Markantes Wahrzeichen der Stadt ist dort der 1995 fertiggestellte Fernsehturm «Oriental Pearl Tower». Mit seinen 468 Metern war er damals das höchste Gebäude Chinas. Doch seither ist viel passiert, nicht nur in Shanghai, sondern in der ganzen Volksrepublik. Hier werden unsere Trends von morgen schon heute gelebt. So wird zum Beispiel kaum noch mit Bargeld bezahlt, sondern per QR-Code und Smartphone. Der Zwischenschritt mit Kreditkarten erfolgte in China eher stiefmütterlich und scheint auch nicht mehr weiterentwickelt zu werden. Egal ob im Supermarkt, auf dem Fischmarkt, bei der kleinen Dumpling-Küche am Strassenrand, für die Fahrt im chinesischen Uber-Pendant namens Didi oder in der Luxus-Boutique, fast ausnahmslos wird über das Smartphone mit WeChat Pay oder Alipay online bezahlt.
Bezahlen und überwachen mit Gesichtserkennung
Bei den Hema-Shops des Internet-Giganten Alibaba erfolgt das Bezahlen der per App registrierten Kunden bereits via Gesichtserkennung. Diese neue Technologie wird auch vom Staat im grossen Stil für die allgegenwärtige Überwachung genutzt. Wohin dies schon bald in ganz China führen dürfte, leben bereits einige Pilotstädte vor, in denen alle Bewohnerinnen und Bewohner flächendeckend Video-überwacht und nach einem sozialen Punktesystem bewertet werden. Bei Rot über die Strasse gehen gibt Abzüge, gesundes Essen kaufen und die Grossmutter besuchen Pluspunkte. Fast nichts bleibt dem Auge des Staates verborgen. Vorbildliche Bürger werden mit Annehmlichkeiten belohnt, diejenigen am anderen Ende der Skala mit verschiedensten Massnahmen und Einschränkungen bestraft. Erstaunlicherweise wird dieser gigantische Überwachsapparat von den Chinesen selber eher gelassen bis sogar positiv aufgenommen und in den staatseigenen Medien gar als Allheilmittel gegen Betrug und Korruption im kleinen und grossen Stil gefeiert. Auf der auch für uns spürbar positiven Seite hat diese gelebte George-Orwell-Vision die Kriminalität markant gesenkt. So gehört Shanghai wohl zu den sichersten Grossstädten der Welt. Wir haben uns denn auch auf der ganzen Rundreise durch China nie unsicher oder bedroht gefühlt.
Nanjing Lu: die Luxus-Einkaufsmeile
Doch Shanghai überrascht nicht nur mit futuristischen Transport- und Zahlungsmitteln, die Nanjing Lu ist eine der längsten und prächtigsten Einkaufsstrassen der Welt. Hier bietet die Volksrepublik auf einer Länge von rund sechs Kilometern schamlos kapitalistische Luxusgüter aus aller Welt zu westlichen Preisen feil. Insbesondere im westlichen Teil übertreffen sich Gucci, Armani, Prada, Louis Vuitton und Co. mit immer noch pompöseren Einkaufstempeln. Für die viel zitierte, 400 Millionen Menschen umfassende neue Mittelschicht Chinas dürften diese Luxusgüter grösstenteils immer noch ausser Reichweite sein. Doch wächst die Zahl der Millionäre oder gar Milliardäre wohl nirgends so schnell wie in Shanghai. Das schlägt sich auch im automobilen Strassenbild nieder, das durchaus mit demjenigen rund um den Zürcher Paradeplatz vergleichbar ist.
Doch so wenig New York für die ganzen USA steht, ist Shanghai nicht gleich China. Das zeigt sich bereits in der Hauptstadt Beijing, die wir extrem bequem mit einem Hochgeschwindigkeitszug erreichen, der mit einer Geschwindigkeit von über 300 km/h die 1320 Kilometer lange Strecke in lediglich viereinhalb Stunden zurücklegt. In der Hauptstadt ist weniger die Zukunft als die grosse Geschichte der einstigen Kaiser und des Grossen Führers Mao Zedong präsent. Nach einem eindrücklichen Tagesausflug zur grossen Mauer werden wir während zweier Tage fast schon atemlos durch die Verbotene Stadt, Sommerpalast, Himmelstempel, Tiananmen-Platz und Olympiastadion geführt. Bei diesen touristischen Highlights wird uns schnell deutlich: «Overtourism» ist nicht nur ein europäisches Phänomen. Die erst vor kurzem herangewachsene Mittelschicht Chinas hat nicht nur den Konsum, sondern auch das Reisen entdeckt, und wer will es ihr verübeln. So werden auch hier alle bekannten Sehenswürdigkeiten überflutet von chinesischen Reisegruppen, die von mit Megaphonen oder Funkmikrophonen bewaffneten lauten Guides angeführt werden. Westliche Besucher verkommen daneben zur vernachlässigbaren Minderheit.
Andererseits wissen die Chinesen wohl wie keine andere Nation, die Massen effizient zu bewegen, sei es bei den modernen Terminals der Hochgeschwindigkeitszüge, in der Verbotenen Stadt oder den riesigen Hallen der Terrakotta-Krieger in Xian. Alles nimmt geordnet seinen Gang. Doch wer in kleinen Gruppen oder gar mit Privat-Guide unterwegs ist, dem bieten sich trotz allem immer noch Möglichkeiten, die wirklich eindrücklichen Orte in Ruhe auf sich einwirken zu lassen. Das gilt sowohl an den Kulturstätten als auch abseits der breiten Trampelpfade in den Naturparks.
Vom Tourismus geschlucktes Longsheng
Spätestens als wir von Guilin in die Region Longsheng reisen, bekommen wir aber auch einen Eindruck davon, was ein ungebremst anschwellender Touristenstrom mit einem einst abgeschieden verträumten Ort anrichten kann. So führt der Weg ins Tal über ein eigentliches Touristen-Check-in-Tor mit gigantischem Bus-Parkplatz, Souvenir-Shops und Restaurants. Dort müssen die Zutrittstickets für den Bezirk gekauft werden. Danach geht es praktisch im Konvoi zu den drei Dörfern, wobei Ping’an, das nur zu Fuss erreicht werden kann, das bekannteste ist, da es die schönsten Ausblicke, respektive Selfie-Kulisse, auf die jahrhundertealten Reisterrassen bietet. Das führte in diesem einst so entrückten Bergdorf zu einem unbändigen Bauboom, der kaum mehr etwas vom einstigen Zauber des Dorfes übriglässt.
Da macht es Yangshuo nördlich von Guilin mit seinem Eco-Park, der tagsüber nur von den Bewohnern der Dörfer mit Autos befahren werden darf, deutlich besser. Hier radeln die Touristen gemütlich auf Fahrrädern durch die atemberaubend schöne Karstfelsen-Landschaft – oder noch besser, sie lassen sich auf den typischen Bambusflössen den Yulong-Fluss runtertreiben. Diese Flösse werden im Übrigen auch von den Kormoran-Fischern verwendet. Doch auch diese finden ihr Auskommen mittlerweile vor allem als Foto-Sujets für Touristen und weniger mit dem Verkauf der gefangenen Fische. Ebenfalls innerhalb des Parks im kleinen Dorf Jima befindet sich etwas erhöht das sehr empfehlenswerte «Yangshuo Ancient Garden Boutique Hotel». Diese wohltuend ruhige Oase mit stilvoll umgebautem Herrenhaus, wunderschöner Gartenanlage und Pool bietet eine willkommene Auszeit für gestresste China-Reisende.
Jahrhundertealte Reisterrassen mit Wasserbüffeln kultivieren
Danach geht es mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Guilin in etwas mehr als vier Stunden ins rund 1000 Kilometer östlich gelegene Kunming, wobei mindestens ein Drittel der geradlinig durch die Berge gehauenen Strecke in Tunnels verläuft. Die Hauptstadt der Provinz Yunnan liegt auf rund 2000 Meter und ist bekannt für ihre vielfältige Minderheiten-Bevölkerung, das angenehme Klima, das reichhaltige Essen und die bald 40-jährige Städtepartnerschaft mit Zürich. Hier ist auch der nächstgelegene Flughafen zu einem weiteren Tourist-Hotspot: die Reisterrassen von Yuanyang, welche 2013 in die Liste der UNESCO-Weltnaturerben aufgenommen wurde. Spätestens seit dann gibt es bezüglich der touristischen Erschliessung dieses vom Hani-Volk vor über 1300 Jahren geschaffenen Wunderwerks kein Halten mehr. Entlang der neuen Zubringerstrasse gibt es über ein halbes Dutzend Aussichtsterrassen mit grossen Parkplätzen, die nach dem Kauf eines Eintrittstickets je nach Tageszeit das perfekte Bild der Reisterrassen garantieren. Und überall schiessen neue Hotels und Restaurants aus dem Boden. Anderseits wird die Schwerstarbeit in den Terrassen wie seit Jahrhunderten immer noch von Wasserbüffeln und zumeist Frauen verrichtet. Anders als in den Städten braucht der Wandel von der Steinzeit zur Supermoderne in dieser bis vor zehn Jahren praktisch von der Umwelt abgeschlossenen Region im Südwesten Chinas deutlich länger, zumal es auch nicht im Interesse der Zentralregierung sein dürfte, dass es besonders schnell passiert. Schliesslich will man der reisenden Mittelschicht den Blick auf die eigenen – wenn auch menschgemachten – Wunder der Natur mit grosser Vergangenheit nicht verwehren.
Im Einzelkontakt ausnahmslos freundlich und hilfsbereit
Nach vier Wochen und rund 8000 zurückgelegten Kilometern fliegen wir von Shanghai nachdenklich zurück nach Europa. Das einstige Reich der Mitte ist definitiv aus dem kommunistischen Winterschlaf erwacht. Und das Image der billigen Werkbank des Westens stimmt längst nicht mehr. China ist ähnlich der Magnetschwebebahn von Shanghai bezüglich Innovations- und Wirtschaftskraft bereits an uns vorbeigerauscht, zumindest in den grossen Millionen-Metropolen, allen voran Shanghai. Die Entwicklung dieses 1,4 Milliarden Menschen mächtigen Landes in den vergangenen zehn Jahren dürfte einzigartig sein. Wir sind froh um all die Erfahrungen, Eindrücke und vor allem auch persönlichen Begegnungen mit den Menschen in China. Diese mögen für uns «Westler» in der Gruppe häufig etwas laut und rüpelhaft daherkommen, aber einzeln im direkten Kontakt waren sie ohne Ausnahme durchwegs freundlich und überaus zuvorkommend. Die Summe all dieser Eindrücke und Erfahrungen macht China zu einer extrem spannenden Reisedestination, die für jede und jeden viele Überraschungen bereithalten und eine Menge Vorurteile in ein anderes Licht rücken wird.
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