Britische Sportskanone
- 10. Juli 2012
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Der One-77 ist nicht nur der stärkste Aston Martin, sondern auch der kraftvollste Strassensportwagen mit Saugmotor weltweit. PRESTIGE war Ende 2011 bei der allerersten Demonstrationsfahrt des Zwölfzylinder-Boliden dabei «Wie wollen wir ihn denn nennen?» fragt Aston-Martin-Chef Dr. Ulrich Bez seinen leitenden Versuchsingenieur Chris Porritt.
«Mmmmh. Vielleicht irgendwas, was an die Stückzahl erinnert, die wir bauen», antwortet Porritt, der auch Projektchef des neuen Superautos ist. «Die Konkurrenz produziert immer 99 Stück von einer Sonderserie.»
«Dann sollten wir das nicht tun.»
«Genau». Porritt denkt nach. «50 brauchen wir mindestens, damit er sich rechnet. Also 70? Oder 75?»
Bez: «75 ist langweilig. Wie wäre es mit 77 Stück?»
«77? Klingt gut».
«Also 77. Aber Aston Martin 77 ist noch kein Name…»
Stimmt. Die Gehirne hirnen. Dann kommt die Idee: «Wie wärs mit: Einer von 77?
Also One-77? Und das nummerieren wird durch bis zum Seventyseven-77…»
Tatsächlich ist es nicht ganz so weit gekommen – es blieb letztlich bei One-77. Aber die Namensfindung des neuen Supercars der kleinen feinen Autoschmiede Aston Martin hat sich tatsächlich so – oder immerhin ähnlich – zugetragen. Die streng limitierte Auflage soll nicht nur ein paar Extra-Pfund in die Kassen spülen, sondern vor allem als Image-Träger fungieren. Den die Briten immer gerne dort präsentieren, wo das Geld ist.
Wie zum Beispiel bei Richard Bransons Privatfete im Restaurant «Double Eagle» in Old Mesilla. Hier in dem kleinen Vorort von Texas’ zweitgrösster Stadt Las Cruzes, wo der berüchtigte Revolverheld Billy the Kid gehängt worden sein soll und sein Grab nur eine gute Meile entfernt liegt, hat der Tycoon alle eingeladen, die bereits einen Weltraumtrip mit seiner Fluggesellschaft Virgin Galactic gebucht haben: 2013 sollen die ersten Weltraum-Touristen ins All starten. Eine optimale Gelegenheit also für die Astons, um am Eingang nicht nur ihre Rapide, V8 und DBS zu postieren, sondern auch die Spitze der englischen Schaffenskraft, den One-77.
Und das, obwohl den in Amerika derzeit noch niemand benutzen darf. «Für den Wagen fehlt die US-Homologation», bestätigt Porritt. Und tatsächlich geht bislang kein einziges der bislang verkauften Exemplare – laut Werk sind noch ein knappes Dutzend übrig – in die Vereinigten Staaten.
Doch der Besuch von vielen europäischen Branson-Kunden ist Grund genug, den 760 PS starken Über-Aston auch in den Staaten zu zeigen – und zwar in Aktion mitten auf der Start- und Landebahn des Spaceport America. Über gut drei Kilometer reihen sich hier fünf mal fünf Meter grosse Betonplatten in einer Breite von 60 Meter aneinander, damit von hier aus die ruhmvolle amerikanische Weltraumfahrt ihre kommerzielle Fortsetzung finden möge.
Es wird Zeit für einen Ausritt im letzten Vorserienwagen – ans Steuer darf allerdings nur Porritt, der nach eigenen Angaben mehrere 100 000 Kilometer in diversen Prototypen absolviert hat. «Sonst beschweren sich Käufer, wenn die Presse das Auto vor ihnen fährt», sagt er. AM-Kunden scheinen wirklich sensible Wesen zu sein.
Das Platzangebot ist ausgezeichnet. Zwar muss man sich wegen der geringen Fahrzeughöhe beim Einsteigen etwas biegen, aber nicht – wie bei einigen Konkurrenten – verbiegen. Einmal im bestens ausgeformten Schalensitz Platz genommen, kommt GT-Feeling auf – eine sportliche lange Reise bietet sich an. Und das inmitten des typischen Geruchs feinsten Aston-Martin-Leders – es ist wie bei dem kleinen Hersteller üblich mit absoluter Akkuratesse verarbeitet. Aus zehn gepflegten Kuh-Häuten werden mehr als 100 Einzelstücke geschnitten und von Spezialisten mit filigranen Stichen zusammengenäht.
Endlich gibt Porritt dem Zwölfzylinder mal so richtig die Sporen – Vollgas aus dem Stand. 3,7 Sekunden für den Sprint von 0 auf 100 km/h vergehen viel zu schnell, um die Beschleunigung richtig geniessen zu können. Dabei brüllt der One-77 sowohl aussen als auch innen wie ein Rudel eifersüchtiger Löwen – mit der sprichwörtlichen britischen Zurückhaltung hat das hier nichts mehr zu tun.
Per Schaltwippen klickert Porritt durch die sechs Gänge des automatisierten Getriebes, bis die Tachonadel bei 290 km/h steht. Dann muss er schon wieder abbremsen – der Runway ist wie gesagt nur drei Kilometer lang. Ein schneller Bogen, schon beginnt die Rückfahrt. Diesmal beschleunigt Porritt auf 230 Sachen und nimmt die Hände vom Lenkrad. Der One-77, das weltweit stärkste Strassenauto mit einem Saugmotor, fährt weiter stur geradeaus – ein Beweis, wie steif die Karbon-Monocoque-Konstruktion aus über 3500 Kohlefaserteilen ist. Und dafür, wie effektiv das Fahrwerk mit seiner für Strassenfahrzeuge ungewöhnlichen Geometrie arbeitet. Denn es gibt nicht nur die aus dem Rennsport bekannten doppelten Dreiecksquerlenker rundum, sondern ebenso horizontal liegende Stossdämpfer, die eine extrem flache Bauweise ermöglichen. Alle Dämpfer sind natürlich auch individuell einstellbar, so dass jeder Kunde die für ihn optimale Abstimmung erhält. Im Testwagen hat Aston Martin eine komfortable Auslegung gewählt.
Leider ist kaum genug Zeit, die Details im Innenraum mit bewundernden Blicken ausreichend zu würdigen. Ein breiter, mit Instrumenten und Schaltern gespickter Mitteltunnel trennt beide Insassen, Hochwertigkeit atmet aus den Materialien, aus jeder Fuge. Pro Auto investiert Aston Martin 1500 Arbeitsstunden, nur 27 Spezialisten bauen es zusammen.
«Der One-77 ist der totale Ausdruck für alles, was Aston Martin bedeutet», hat uns Chefdesigner Marek Reichmann einst am Tonmodell in der englischen und hochmodernen AM-Fabrik zu Gaydon erklärt. Der Wagen liegt etwa zehn Zentimeter tiefer und ist um das gleiche Mass kürzer als ein DBS. Die Breite von zwei Metern (ohne Aussenspiegel) verpasst der Wagen knapp. Das ist Absicht, «denn ab genau zwei Metern würde der Wagen als Truck gelten und müsste seitliche Blinker besitzen», erklärt Porritt grinsend.
Die auf dem Hochgeschwindigkeitsoval im italienischen Nardò gemessenen 354 km/h Spitzengeschwindigkeit verpassen wir auf dem Spaceport-Runway deutlich – doch dass der One-77 mehr kann, glauben wir seinen Machern aufs Wort. Zwar haben wir nur einen kurzen Fahreindruck erhalten, aber er war sehr aufschlussreich – sehr viel mehr geht derzeit nicht.
Wer sich noch einen dieser seltenen Aston Martin sichern will, muss sich sputen und sollte gespart haben: Das Auto kostet netto etwas über 1,6 Millionen Franken. Eine weitere Auflage wird es nicht geben, auch keine offene Version: Der zusätzliche Konstruktionsaufwand wäre angesichts der Stückzahlen selbst bei einem so hochgezüchteten Superauto zu gross.