Berliner Schnauze Hongkong Style
- 27. März 2013
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Ein Tag mit Zwei-Sterne-Koch Tim Raue Mittwochvormittag kurz vor 11 Uhr mitten in Kreuzberg. «Der Chef ist noch nicht da», erklärt mir die Dame am Empfang mit leicht Berliner Zungenschlag. Zeit, sich schon mal ein wenig umzuschauen. Die hohen, in strahlendem Weiss gehaltenen Räume der ehemaligen Galerie, an deren Decke noch immer Kunstleuchten stimmungsvolle Lichtakzente setzen, sind möbliert mit edlen Nussbaumtischen. Die bequemen Stühle und Sitzbänke sind in kräftigen Blau- und Violetttönen gehalten. Unter meinen Füssen ein glänzender Terrazzoboden in Schwarz-Weiss. An den Wänden moderne Kunst: das Foto einer Wasserstoffbombenexplosion, ein überdimensionales Ölgemälde mit Müllsäcken vor einem üppig tropischen Hintergrund.
Dann steht Tim Raue plötzlich vor mir. «Wollen Sie gleich in die Küche oder wollen Sie mich zu einem Termin begleiten?», fragt er. Ich entscheide mich für die Spritztour. Vor der Türe wartet schon Herr Burwieck, der den Zwei-Sterne-Koch tagtäglich mit seinem Taxi durch das Verkehrschaos der Hauptstadt kutschiert, denn der hat keinen Führerschein. Unser Ziel: der Delphi Filmpalast in der Kantstrasse.
Mittags ins «Good Friends»
Dort findet ein Fotoshooting für den Programmflyer des Kulinarischen Kinos statt, das jedes Jahr parallel zur Berlinale läuft. Am Set warten schon Raues Berliner Sternekollegen Hendrik Otto vom Hotel Adlon, Michael Hoffmann, Chef des «Margaux», und Kolja Kleeberg, der im «VAU» am Herd steht. Ausserdem Nils Henkel vom Schlosshotel Lerbach.
Kaum betritt Raue das Foyer, steht er sofort im Mittelpunkt, gibt den Entertainer. Als er vor die Linse tritt, spürt man: Raue ist nicht nur in der Küche ein Vollprofi. Nach der Fotosession, es ist mittlerweile halb eins, hat Raue erst mal Hunger. Ich auch. Wir fahren, Kolja Kleeberg und Nils Henkel im Schlepptau, mit Herrn Burwieck ein paar Häuser weiter ins «Good Friends». Dieses Chinarestaurant mit dem Charme einer bulgarischen Bahnhofgaststätte ist Raues zweites Wohnzimmer und eine Berliner Institution. Mindestens dreimal die Woche geht der Sternekoch über Mittag dorthin, an den anderen Tagen auch mal ins Fitnessstudio.
In seiner hochgeschlossenen Kochjacke im preussischblauen Mao-Look wirkt Raue wie ein ranghoher KP-Funktionär und bellt Kommandos, als wäre er hier selbst der grosse Vorsitzende. Schon wenige Minuten später füllt sich der runde Tisch mit dampfenden Platten voll von gebratenem Schweinebauch mit Gemüse, Seezunge mit Ingwer und Lauch, gesottenen Kutteln, Fong-Wong-Rollen und krosser Ente. Dazu gibt es chinesischen Jasmintee.
Das Tischgespräch kreist um Kollegen, Restaurantkritiker, explodierende Warenkosten und die besten Fisch-, Trüffel- und Kaviarlieferanten. Küchenpalaver eben. Nach einer halben Stunde wird die Tafel aufgehoben und es geht zurück in die Rudi-Dutschke-Strasse, wo der Kreuzberger sich mit dem Restaurant Tim Raue sein eigenes Reich der Mitte geschaffen hat und der Mittagsservice grade auf Hochtouren läuft. Auf der Fahrt erzählt der Chef von seinem Traum, in Berlin vielleicht noch ein chinesisches Restaurant zu eröffnen mit einer Karte wie im «Good Friends», die von kantonesischer Hausmannskost geprägt ist, nur eben nicht mit Zutaten aus der Tiefkühltruhe und ohne Glutamat.
Gehobener Asian Style
Wie viele andere Sternelokale der Hauptstadt bietet auch Raue ein preisgünstiges Lunchmenu an, das auch Menschen mit kleinem Geldbeutel erlaubt, einen tiefen Blick in die Kochtöpfe der Berliner Toprestaurants zu werfen – so gibt es mittags ein Drei-Gang-Menu schon für 38 €, Sechs-Gänge für 68 €. In der Küche nimmt der Chef dann sofort seinen Platz am Pass ein und beginnt, Teller anzurichten, signiert nebenbei sein neues Kochbuch «My favourite things», lässt mir Hummer-Dim-Sum mit Thaivinaigrette, danach Kaisergranat mit rosa Rübchen und Wasabi servieren und probiert noch schnell ein Rezept für ein Event, das vor seinem strengen Gaumen im Praxistest prompt durchfällt. Als der Betrieb nachlässt, machen wir eine kurze Tour durch die geschätzt 25 Quadratmeter grosse Küche, die sich trotz Raues konsequent panasiatischem Ansatz, der ihm ein absolutes Alleinstellungsmerkmal innerhalb der deutschen Spitzengastronomie verleiht, in nichts von anderen Restaurantküchen unterscheidet: Es gibt den Gardemanger, den Entremetier, die kleine Ecke für die Pâtisserie. Alle Posten sind doppelt besetzt, insgesamt werkeln hier inklusive Raue und Küchenchef Christian Singer zehn Männer und Frauen. Die Atmosphäre ist erstaunlich entspannt. Ansagen Raues werden mit dem obligatorischen «Jawohl Chef!» quittiert, oft reicht eine hochgezogene Augenbraue oder eine eindeutige Geste und der «Angesprochene» weiss sofort, was damit gemeint ist. Dann entlässt mich Raue in die Obhut seines Pâtissiers Daniel Budde.
Der zeigt mir, wie er aus geläutertem Muskovadozucker kleine Kunstwerke bläst – in diesem Fall Birnen aus Estragonessig-Karamell für das Dessert des aktuellen Wintermenus, die wirken, als seien sie aus hauchzartem Muranoglas gefertigt. Der Chef geht derweil spazieren. Im übertragenen Sinne zumindest, denn Raue verbringt fast ebenso viel Zeit im Gastraum wie in der Küche. Mindestens einen Gang pro Tisch serviert er persönlich und verwickelt seine Gäste dabei binnen Sekunden so gekonnt in Smalltalk, dass das junge Pärchen am Nachbartisch, das nicht den Eindruck macht, als frequentiere es Sternerestaurants regelmässig, in kürzester Zeit alle Scheu vor dem Meister ablegt. Dieser joviale Umgangston, liebevoll Berliner Schnauze genannt, wird auch vom Serviceteam unter Leitung von Raues Frau Marie-Anne gepflegt, was die Kundschaft sichtlich schätzt, weil es Hemmschwellen abbaut und ganz nebenbei Lust macht wiederzukommen.
Produktverliebtheit und Perfektionismus
Gegen 16.00 Uhr werde ich freundlich, aber bestimmt vor die Tür gesetzt – jetzt ist Pause. Raue geht zu Saturn, um seinen abgestürzten Computer von der Reparatur abzuholen. Pünktlich um sieben soll ich aber wieder da sein, um das Menu «unique» zu probieren, Raues kulinarische Visitenkarte in sechs Gängen (148 €) und Gault-Millau-Menu des Jahres 2012.
Die ersten Teller lässt mir der Chef gleich in der Küche servieren, in der kurz nach sieben das Licht gedimmt und durch eine Spotbeleuchtung ersetzt wird – «das hilft dem Team beim Konzentrieren auf die Teller», erklärt Raue. Gäste können das Geschehen in der Küche durch eine breite Glasfront live mitverfolgen. Den Einstieg ins Menu bilden in Anlehnung an die chinesische Küchentradition acht kleine Kostbarkeiten (mittags vier) wie Raues Version der Drunken Prawns mit XO-Cognac-Gelée, eingelegter Rettich, hauchdünner Schweinebauch, gebeizter Lachs mit Grapefruit und Vanille…
Schon diese Kleinigkeiten machen deutlich, was den Stil von Raues Küche ausmacht: die Verbindung einer fast schon an Fetischismus grenzenden Produktverliebtheit, die stark an die japanische Küche erinnert; die chinesische Philosophie, die jeder Speise Eigenschaften zuschreibt, die das körperliche und seelische Gleichgewicht erhalten oder durcheinanderwirbeln können, und das Spiel mit frischen Kräutern und Gewürzen, das an die Frischeküche Thailands erinnert. Kurzum: wenig technischer Aufwand und der weitgehende Verzicht auf eine Veränderung von Konsistenz oder Textur, das heisst, alle Elemente auf dem Teller bleiben erkennbar als das, was sie sind. Dafür eine Fokussierung auf transparente, laserscharf herausgearbeitete Aromen. Daraus ergibt sich ein Geschmacksbild, das von vier zentralen Säulen getragen wird und praktisch auf jedem Teller Raues präsent ist: natürliche Fruchtsüsse, Säure, mal deutliche, mal subtile Schärfe und vegetabile Aromen. Gleichzeitig hat Raue alles, was den Körper belasten könnte, wie weissen Zucker oder sonstige «leere» Kohlehydrate wie Brot oder Reis und laktosehaltige Milchprodukte, konsequent aus seiner Küche verbannt.
Was im ersten Moment nach Diät klingt, ist in Wahrheit dem Genuss geschuldet, denn die prägnanten Aromen, die seine Küche ausmachen, würde man mit diesen «Sättigungsbeilagen» nur zukleistern und relativieren, ist der Chef überzeugt. Aber Raue mag viel lieber provozieren, will, dass sich Gäste auf seine Gerichte einlassen. Wenn es denen nicht passt? Dann sollen sie eben wegbleiben – Raue ist kein Mann für Kompromisse. Mehrmals im Jahr reist er in seine Lieblingsstadt Hongkong, nach Thailand oder Tokio, um vor Ort seine Kenntnis asiatischer Produkte und Gartechniken weiter zu vervollkommnen, sich mit Händlern und Mentoren zu treffen und auf den Märkten nach neuen Produkten zu stöbern.
Nach dem Menuauftakt, Blumenkohl-Liebstöckel-Salat mit Habanero-Chili-Püree, eingemachten Trauben und Trüffel-Haselnuss-Eis, gibt es einen Teller, der Raues Küchenphilosophie perfekt auf den Punkt bringt: gedämpfter Zander, obenauf ein wenig Yuzu-Gel (eine japanische Zitrusfrucht von der Insel Schikoku mit einem ausgesprochen komplexen Aroma), dazu würziges Schnittlauchöl und Shanghai Pak-Shoi. Der Clou ist die Sauce, ein Soja-Sud, in dem Raue eine zehn Jahre gereifte Kamebisji-Soja-Sauce verarbeitet – der Liter zu rund 1000 Franken – die dem Gericht eine solche Fülle und aromatische Dichte verleiht, dass einem wohlige Schauer über den Rücken laufen. Essen bei Raue macht nämlich vor allem eines: Spass! Doch der hat seinen Preis. Wenn Raue katalanische Seegurken, Abaloneschnecken, Fish Maw (die getrocknete Schwimmblase bestimmter Fischarten) oder Schwalbennester ordert, werden schnell mehrere Hundert oder gar Tausend Franken pro Kilo fällig. Und seit in China auch ausserhalb der Sonderwirtschaftszonen der Reichtum explodiert, haben sich die Preise teilweise mehr als verdreifacht, stöhnt Raue. Dennoch werden in seinem Restaurant regelmässig palettenweise Waren mit den besten Viktualien angeliefert, die man für Geld kaufen kann. Ausserdem habe er auf der Suche nach Produkten, die seinen Ansprüchen gerecht werden, das Sortiment zweier Berliner Asiamärkte komplett durchprobiert, fügt der Chef schmunzelnd hinzu.
Ich habe mich mittlerweile über bretonischen Hummer mit Karotte, Passionsfrucht, Ingwer und Dashi-Essig sowie saftiges Rebhuhn mit japanischer Kastanie und Kumquat zum Hauptgang geschlemmt: kantonesisches Black Pepper Beef mit pochierter Schalotte, milder Knoblauchcrème, Schalotten-Crunch, in Portweinessig marinierten Silberzwiebeln und Schnittlauchblüten. «Mehr davon!», ist alles, was mir dazu noch einfällt.
Das Dessert, Crémeux von Porcelana-Schokolade, Gelée, Sorbet und Tapioka von Mango und Passionsfrucht, Sichuan-Pfeffer-Baiser und Malzbier, setzt einen würdigen Schlussakkord unter einen rundum gelungenen Abend. Übrigens: Wer glaubt, die Aromenwelt Asiens harmoniere nur schwer mit europäischen Spitzenweinen, kann sich bei Tim Raue genussvoll eines Besseren belehren lassen.
Where to go
Restaurant Tim Raue
Zwei Sterne Michelin, 19 Punkte Gault Millau
Rudi-Dutschke-Strasse 26
D-10969 Berlinwww.tim-raue.comTel. +49 (0) 30 2 59 3 79 30
Geöffnet: Dienstag – Samstag
12.00 bis 15.00Uhr (Küche bis 13.30 Uhr)
19.00 bis 00.00 Uhr (Küche bis 21.30 Uhr)