
Anime und die Kinder von Edo: Tokio
- 3. Dezember 2012
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22 Uhr und noch immer sind viele Bürohochhäuser hell erleuchtet und Angestellte sitzen wie fleissige Drohnen vor ihren Computern. Andere Stadtteile erscheinen hingegen wie Comic-Animationen, in denen kindlicher Spass keine Grenzen zu kennen scheint. In Tokio ist manch einer nicht nur Lost in Translation, sondern vor allem Lost in Culture. Selbst hartgesottene Reisende fühlen sich von Tokio eingeschüchtert, was weniger an der Sprachbarriere (die meisten Beschilderungen sind inzwischen auf Englisch und Speisekarten häufig bebildert) oder der Grössenordnung der Stadt (momentan zählen die 23 Bezirke Tokios ungefähr neun Millionen Einwohner) liegt, als vielmehr am Takt, in dem diese Stadt tanzt. Sie lebt einen ambivalenten, scheinbar disharmonischen Rhythmus, der für europäische Besucher nur schwer zugänglich ist. In Japans Metropole tragen selbst die Taxifahrer immer einen Anzug, während 17-jährige Schülerinnen in Lolita-Outfits durch die Strassen flanieren. Die Stadt kann sich mit 191 Sterne-Restaurants brüsten, während auf der anderen Seite nirgendwo auf der Welt so viele Essensautomaten wie in Japan zu finden sind. In Tokio kann es auch schon mal vorkommen, dass sich ein Drei-Sterne-Restaurant in einem Parkhaus befindet und man im Supermarkt formvollendete Melonen für umgerechnet 250 Franken angeboten bekommt. Die japanische Liebe für harmonische Formen lässt sich bei Sembikiya beobachten: Tokios berühmtester Obstladen verkauft seit 1834 ausschliesslich perfekt geformte Früchte.
Prachtmeilen und Verkleidungskult
Auf der Suche nach Kuriosem hat man es in Tokio nie weit. Auf der Ginza, den Champs-Élysées der Metropole, flaniert man an Designertempeln vorbei und lässt die exquisiten Schaufenster von den Luxuslabeln der Welt auf sich wirken. Hier dominieren Louis Vuitton, Chanel, Gucci, Hermès und Prada. Wer am Wochenende hingegen zum JR-Bahnhof Harajuku fährt und zum Yoyogi-koen läuft, erlebt eine ganz andere Welt: ein Potpourri aus Subkulturen – Gruft-Lolitas, die sich wie Vampire gebärden, Jugendliche mit Bandagen und Augenklappen – eine wilde Mischung aus Glam Rock und Halloween. Harajuku ist vor allem bei jungen Japanern beliebt und gilt mit seinen vielen Läden und Boutiquen als eines der wichtigsten Modezentren Japans. Zudem ist das Viertel beliebter Treffpunkt der sogenannten Cosplayers. Der Begriff Cosplay stammt von «costume play», frei übersetzt «Kostümspiel». Bei diesem japanischen Verkleidungstrend stellt man eine Figur durch Kostüm und Verhalten möglichst originalgetreu dar. Der Charakter kann dabei aus einem Manga, einem Anime, einem Videospiel oder einem Spielfilm stammen.
Dabei übertreffen sich die Kids gegenseitig an Perfektion und aufwendigen Kostümen. Tokio ist eine Stadt mit viel Stilbewusstsein, doch jeder hat hier seinen eigenen Stil. Design, Trends und Schönheit haben einen hohen Stellenwert in Japans Megacity. Schönheit liegt jedoch immer im Auge des Betrachters. Doch egal, wer welchen Stil pflegt, schlecht gekleidete Menschen sieht man in Tokio kaum. Schon in der Edo-Zeit mauserte sich Tokio zu Japans Modehauptstadt. Die sogenannten Kinder von Edo verliehen den tristen Kimonos eine schicke Note, indem sie kleine, bunte Beutel anfertigten, die mithilfe von «netsuke» (geschnitzten Figuren) befestigt wurden. Seit dem 19. Jahrhundert orientiert sich Japan an der westlichen Mode, doch immer wieder trifft man auf den Strassen der Stadt Menschen, die nach wie vor traditionelle Kleidung tragen. Bei Hochzeiten, Feierlichkeiten und Feuerwerken streifen noch viele Kimonos über. Auch im modischen Bereich ist Japan somit ein Land zwischen Tradition und Moderne, und in keiner anderen Stadt leben Zukunft und Vergangenheit so deutlich nebeneinander wie in Tokio.
Manga, Lolitas und Japans High Society
Roboter, Superhelden und niedliche Schulmädchen – vieles in Tokio klingt nach kindlicher Unterhaltungskost. Doch selbst erwachsene Frauen und gestandene Geschäftsmänner unterliegen dem «Hello Kitty»-Reiz und der grellbunten Manga-Lektüre. Die Comicwelt Japans richtet sich längst nicht mehr nur an Kinder, immer wieder trifft man in den Zügen auf biedere Anzugträger, die in telefonbuchdicke Samurai-Mangas versunken sind. Wöchentlich erscheinen zig Manga-Anthologien von der Ganger-Saga über Schachthemen bis zu Softpornos. In Japan werden circa 266 Magazine mit einem auf den Monat umgerechneten Gesamtumfang von etwa 100’000 Seiten veröffentlicht. Noch schräger als die Manga-Comics sind mitunter nur die Anime-Filme mit ihren Horden von grossäugigen Schulmädchen, Knuddelmonstern und mechatronischen Superhelden.
Einige Filme wie der 2003 erschienene Film «Chihiros Reise ins Zauberland», Japans bisher erfolgreichster Film, erhielten gar einen Oscar für das beste animierte Werk. Fans können im Ghibli-Museum einen Blick hinter die Kulissen dieser einzigartigen Kunstform werfen. Und der Boom ist ungebremst, noch immer werden jährlich circa 5000 Anime-Filme produziert. Wer vollständig in die Welt der Anime und Mangas versinken möchte, sollte Akihabara ansteuern. Hier gibt es nicht nur hunderte von Comicläden, auch jede Menge Souvenirs-Animes und Manga-T-Shirts gehen hier über die Theke. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der «otaku» (Computerfreaks oder japanische Nerds) gehört ein Besuch im «@home cafe». Hier bedienen Kellnerinnen im französischen Dienstmädchendress, die die männlichen Gäste als «go-shujinsama» (Meister) ansprechen. Ja, in Tokio gibt man sich auch gerne etwas anzüglich, doch alles bleibt im Rahmen und ist ein eher unschuldiger Zeitvertreib.
Wem das alles zu freakig ist, aber trotzdem nicht auf sein Teestündchen verzichten möchte, der sollte spätestens zur Teatime ins The Peninsula Hotel Tokyo einkehren. In der Lobby des Hotels treffen sich die feinen, reichen Damen Tokios zu Törtchen und feinstem Gebäck, untermalt von leiser Livemusik. Zudem bietet das Hotel den optimalen Ausgangspunkt zur Erkundung der Stadt. Wie kaum ein anderes Hotel blickt das «Peninsula Tokyo» auf die beiden Gesichter der japanischen Millionenmetropole: Auf der einen Seite erstrecken sich die Kaiserlichen Gärten mit ihren Grünanlagen in meditativer Ordnung, auf der anderen tobt das quirlige Geschäftsleben in angesagten Restaurants, Bars und Designerläden. Die Ginza ist fussläufig in circa zehn Minuten zu erreichen und vor der Tür befinden sich zwei U-Stationen, die schnell in eine wiederum ganz andere Welt Tokios führen.
Das Hotel verfügt über 314 Zimmer, darunter 47 Suiten. Raum ist in Tokio der wahre Luxus. Und dies gilt besonders für das «Peninsula»: Hier sind die Zimmer nicht nur anspruchsvoll gestaltet, sondern auch von der Grösse her luxuriös. Die Gästezimmer (ab 51 m²) zählen zu den grössten in Tokio. Kurz gesagt: Das «Peninsula» gehört sicherlich zu einem der besten Orte der Stadt, in dem sich der Besucher von all den vielen verwirrenden neuen Eindrücken erholen kann. Doch auch im Haus selbst kann man vieles von der japanischen Kultur erfahren. The Peninsula Hotel Tokyo beherbergt eine der interessantesten Sammlungen zeitgenössischer asiatischer Kunst in der Fünf-Sterne-Hotellerie. Eigens für das Haus schufen 60 Künstler rund 1000 Werke. Ob Papierkunst, Wandbilder aus Ton oder Skulpturen – die Werke der japanischen Künstler und ihre überlieferten Techniken erklärt der Peninsula Art Walk in einer iPod-Tour.
Shortcut
Das Automatenparadies
In Japan stehen insgesamt mehr als 5,5 Millionen Automaten, die umgerechnet mehr als 60 Milliarden US-Dollar schlucken. Man findet sie in Hochgeschwindigkeitszügen, abgelegenen Dörfern und sogar auf dem Berg Fuji. Tokio ist nicht nur die Hauptstadt des Landes, sondern mit Sicherheit die Hauptstadt der Automaten. Es gibt sie an jeder Ecke in nahezu jeglicher Form. Zudem spucken sie so ziemlich alles aus, was man sich wünschen könnte: Zigaretten, Sake, Reis, Nudeln, Blumen, Spielzeug, Toilettenpapier, Wettscheine, Versicherungen, Unterwäsche, Pornografie oder Popcorn. Selbst für Fetischisten gibt es spezielle Automaten mit getragener Unterwäsche oder Sexspielzeugen. Eine Erklärung für die Beliebtheit der Verkaufsmaschinen gibt das Buch «Kulturgeschichte der Automaten»: Japaner schätzen Bequemlichkeit, wollen einkaufen, ohne mit jemandem reden zu müssen, und begeistern sich generell für jegliche Art von Automatisierung, daher erfreuen sich wohl auch Industrieroboter so grosser Beliebtheit. Auch verwundert es nicht, dass Spielhöllen zu jeder Tages- und Nachtzeit gut besetzt sind. Stundenlang starren Jugendliche auf bunte Lichter, schwirrende Kugeln, 3D-Animationen, eingehüllt von den schrillen Tönen der Automaten. Was diese blinkenden Helfer und Unterhaltungsautomaten jedoch sicher nicht können, ist die sozialen Bedürfnisse einer Gesellschaft zu befriedigen, deren Leben von sehr strengen Hierarchien und Benimmregeln geprägt ist. Trotzdem wimmelt es in der Stadt von Maschinen und man versinkt mancherorts förmlich in einem Meer aus Elektrogeräten, selbst auf dem sogenannten stillen Örtchen empfangen uns hypermoderne Toiletten mit bis zu dreissig Knöpfen und dem nachgeahmten Rauschen einer Wasserspülung.